Ich bin vielleicht schon zu spät dran, aber ich habe erst jetzt den im Startbeitrag verlinkten Artikel von Synes Ernst gelesen und mir ein paar Gedanken gemacht. Ganz im Sinne des Artikels geht es ja auch hier nicht primär darum, nur besonders schnell Meinungen ins Internet heraus zu blasen...
Was mir in fast allen Diskussionen zum Umgang mit Spielen zu kurz kommt, ob hier beim Thema Kritik oder z.B. bei der jüngst verlinkten Podiumsdiskussion zum Thema "Spiele als Kulturgut", ist das Bewusstsein dafür, welche riesige Bandbreite Spiele abdecken. Das geht ja von HABA-Sachen wie "Mein erster Obstgarten" bis zum todernsten Simulationsspiel von 6+ Stunden Dauer mit an die 100 Seiten Regeln. Es geht vom Partyspiel zur lockeren Unterhaltung bis zum wettbewerbsmäßig betriebenen Denksport. Das kann man auch in Sachen "Spielkritik" nicht alles über einen Kamm scheren.
Die Bandbreite von Brett- und Kartenspielen ist viel breiter als die von Videospielen oder Filmen. Selbst Bücher können da nur mithalten, wenn wir die Bilderbücher für die Kleinsten mitzählen. Kinder spielen schon viele Jahre, bevor sie lesen können. Das Problem der Spieleszene ist jetzt, dass "wir" in dem Gefühl, im Vergleich zu anderen Hobbys oder Wirtschaftszweigen etwas zurückgesetzt behandelt zu werden ("Brettspiele sind doch nur etwas für Kinder!"), manchmal meinen, uns als eine große Gruppe sehen zu müssen und dabei verlernt haben, innerhalb unseres riesengroßen Bereiches da zu differenzieren, wo es auch mal notwendig ist.
Wir freuen uns, wenn Bildungsforscher den Wert des Spielens für Kleinkinder loben und fühlen uns auch als Spieler von Great Western Trail oder Terraforming Mars damit getäschtelt. Unsinn! Wir diskutieren teils voller Insbrunst über den kulturellen Wert von Spielen, loben Spiele wie die genannten oder Sachen wie Haspelknecht, weil sie uns ermuntern, uns mit einem Thema zu beschäftigen ... und vergessen, dass wir einmal in der Woche zum Spieleabend fahren, nicht um hochkulturellen Austausch zu betreiben, so'n Quatsch!, sondern primär einfach als schnöde Hobbybeschäftigung. (Was völlig okay ist!) Wir diskutieren hochtrabend Kriterien von bzw. Ansprüche an Videoreviews und was machen wir, wenn wir von einer tollen Neuheit hören? Na klar: BGG aufrufen, Video-Tab, erstes verfügbares Video klicken...
Bleiben wir doch alle mal ein bisschen realistisch. Das ist mein erste Wunsch. Der zweite wäre, etwas präziser zu sein. Viele, die irgendwelche allgemeineren Aussagen zu Spielen treffen, beziehen sich implizit auf einen bestimmten Teil der Spieleszene. Spiele als Kulturgut, Spiele zur Förderung intellektueller Fähigkeiten, Spiele zur Förderung von Sozialkompetenz, usw. -- alles irgendwo richtig, aber nur für bestimmte Teilbereiche unserer Spieleszene. In anderen Bereichen schlicht falsch, und das darf man auch ruhig zugeben. Möchte jemand wirklich die Eignung von Looping Louie (als Kinderspiel und darüber hinaus, ihr wisst schon, was ich meine) in der Art einer Literaturkritik besprochen sehen? Oder für Looping Louie als Kulturgut argumentieren? Doch wirklich nicht!
Klar ist: Spiele haben selbstverständlich Anknüpfungspunkte in Richtung Kultur, und da kommen dann natürlich auch Ansprüche an Kritiken und Kritiker zustande, wie man sie auch völlig zurecht an andere Kulturgattungen stellt. Wer als qualitätsbewusster Spielekritiker einen gewissen Anspruch an sich selbst stellt, ist in jedem Falle gut beraten, sich damit zu beschäftigen, welche Konventionen sich für Kritiken und Reviews auch anderswo entwickelt haben.
Aber ist das der einzig erlaubte Weg, Texte oder Spiele zu schreiben oder Videos über Spiele zu machen? Definitiv nein! Ich kann doch keinem das Recht absprechen, im Wochenbericht hier seinen Ersteindruck zu schildern! Ganz im Gegenteil: ich freue mich doch, sowas zu lesen. Dass ist das nicht überbewerte und nicht zuviel reininterpretiere, ist ganz allein meine Pflicht und Aufgabe als Leser.
Ein Merkmal unser heutigen Zeit ist, dass keine größeren Hürden existieren, um seine Ansichten weltwelt bekannt zu machen -- mit allen Vor- und Nachteilen. Jemand mit viel Ahnung von Spielen möchte seine Ansichten anderen mitteilen? Wunderbar, soll er ruhig tun! Es ist doch schön, dass man dazu im Jahre 2018 dazu kein festangestellter Journalist mehr sein muss! Ja, sogar so ein -- aus meiner Sicht -- gequirlter Unfug wie "Unboxing-Videos" hat seine Berechtigung, wenn genügend Leute sowas sehen wollen. Solange sich niemand, der bloß gut Spieleschachteln vor laufender Kamera auspacken kann, sich deshalb als "Spieleexperten" bezeichnet, ist das doch gar kein Problem.
Der leichte Zugang zu Medien hat jedoch einen Preis. Sagen wir's ganz offen: man wird von Müll überschwemmt. Ist systembedingt, lässt sich nicht ändern. Wenn früher Musiker einen Plattenvertrag brauchten, Schreiberlinge eine Festanstellung bei einer Zeitung oder bildende Künstler Stipendium, Erfolg, Nebenjob oder am besten alles zusammen, dann war das auch eine Art Qualitätsfilter. Heute kann jeder seinen Rotz per Internet in die Welt blasen. Ja, selbst der Unboxing-Held, der von nichts eine Ahnung hat und keinen korrekten deutschen Satz herausbringt, darf sich theoretisch Spieleexperte nennen, ohne dass ihm jemand widerspricht (könnte schon, aber das macht natürlich keiner, einfach weil's nicht bringt, höchstens Ärger mit den überzeugten Fans des Videoerstellers.)
Das heißt dann natürlich fast zwangsweise, dass es zum Scheitern verurteilt ist, irgendwelche Qualitätsansprüche verbindlich einzufordern. Das widerspricht dem allgemeinen Recht aller Youtuber, beliebigen Schrott produzieren zu dürfen. Die guten Spielekritiken und -reviews werden immer eine Minderheit bleiben, die man mit der Lupe suchen muss; das war noch nie anders. Das gilt außerdem umso mehr, wenn man als qualitätsbewusster Leser den Autor nicht für seine Leistung bezahlt, d.h. wenn der Autor entweder seine Hobby-Leistung kostenlos erbringt oder über eine eingeplante Kommerzialierung sich dem Zwang unterwirft, das zu produzieren, was möglichst schnell möglichst viele Klicks bringt.
Das bringt mich zu meinem Fazit der ganzen immer wieder aufkommenden Rezensions-Diskussion. In der Internet-Zeit ist es allein Sache der Konsumenten, die dem eigenen Anspruchsniveau gemäßen Beiträge aus einer Flut von Informationen unterschiedlichster Güte herauszufiltern. Weniger, weil's so herum toll wäre, sondern eher gezwungenermaßen, weil's einfach nicht anders geht. Das ist manchmal schwer, aber zum Glück ist man damit nicht alleine. Erstaunlich vielen geht's ähnlich. Bezahlte Werbung will doch niemand als Review untergejubelt bekommen, und Reviewer, die in jedem Monat 20 frisch gestartete Kickstarter-Projekte zum Mitbacken empfehlen, haben ganz schnell ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Sehr viele Menschen in unserem Hobby suchen etwas Besseres.
Okay, also was hilft dabei, einen gewissen Qualitätsanspruch hoch zu halten? Ich glaube, wir sollten zwischen drei Bereichen unterscheiden:
- Denen, die gute Reviews schreiben, muss man auch signalisieren, dass man ihre Arbeit schätzt. Diese Arbeiten sollte man auch weiterempfehlen, auch wenn man manchmal der Meinung ist, dass alle nur den Schund toll finden und man als qualitätsbewusster Mensch ziemlich alleine wäre. (Wer das elitär findet, soll es ruhig!)
- Was einem egal sein kann, einfach mal stumpf ignorieren. Das ist die große Masse der Sachen. Auch wenn jemand Aussagen trifft, die nur unter gewissen Einschränkungen oder für einen Teilbereich der breiten Spieleszene gelten, dann reicht es, diese Einschränkung ggf. nachzuliefern, wenn überhaupt nötig. Da muss man nicht argumentieren, dass die Aussage an sich falsch wäre oder diese Art von Ersteindruck/Unboxing/Sonstwas generell blöd. Wenn jemand seinen Vorabeindruck einer unveröffentlichten Neuheit (z.B. Kickstarter) nur aufgrund von Regellektüre, dann ist das doch wunderbar (und in Normalfall auch informativer als "paid previews"), solange derjenige nicht von sich behauptet, schon alles zu dem Spiel zu wissen.
- An den wenigen (!) Stellen, wo in Reviews wirklich mal offensichtlich schlecht/unsauber/unsolide gearbeitet wurde (Falschinformationen, Abhängigkeiten, falsche Schlussfolgerungen), sollte man auch ruhig mal sehr gezielt den Finger in die Wunde legen. Dazu darf man sich aber nicht über jeden Mist aufregen, sondern muss das sehr dosiert und gezielt einsetzen. Wer unsauber oder abhängig arbeitet, darf auch ruhig mal mitkriegen, dass nicht alles erlaubt ist.
Das wichtigste ist der mittlere Punkt. Ein Großteil der Aufregungen, auch hier im Forum, ist schlicht nicht notwendig. Lasst den Leuten ihre Meinung, denkt euch euren Teil, und gut ist's. Bei den extremeren Verfehlungen Kritik üben reicht völlig aus.