Ich glaube, ein wesentliches Merkmal der gegenseitigen Irritation beider Lager (Ernst/Forumsteile) ist eine andere Herangehensweise. Um sich auf Augenhöhe (und das hat er gemeint) mit Kulturrezensionen zu befördern, muss eine Rezension meiner Meinung nach zunächst einmal das Produkt (Buch, Film, Musik, Spiel) in den Mittelpunkt stellen.
Das heißt beim Gesellschaftsspiel: Mechanismen, Verzahnung zum Thema, Siegbedingungen, Interaktion, Illustration - alles vor dem Hintergrund der Zielgruppe. Die meisten Rezensionen aus dem Hobbybereich blubbern aber nicht nur den Spielablauf nach, sondern zentrieren sonst nur noch den Spielspaß. Und genau der ist nur ein kleiner Teil einer "guten Rezension". Bei vielen verkümmert der Rest der Punkte zur Unkenntlichkeit, während der Spielspaß in der Gruppe beschrieben und zum wesentlichsten Merkmal der Bewertung wird.
Nur kommt niemand bei einer Kulturkritik auf die Idee, den Lesegenuss, das Kinoerlebnis oder die Freude über die Hookline in den Mittelpunkt (schon als Teil der Betrachtung, aber eben nicht zentral) zu stellen, sondern stets Inhalt, Umsetzung, Idee, Kreativität und Leistung der im weitesten Sinne Produzierenden. Und NATÜRLICH muss man dazu objektive und subjektive Argumente liefern. Nämlich eine Einschätzung zum Geschaffenen. Ohne Argumente ist doch gar keine kritische Auseinandersetzung möglich, die das Format einer Rezension fordert, Weltherrscher .
Genau diese Art von Diskrepanz zeigt sich übrigens auch beim Stichwort Kulturgut. Ist das Spiel wirklich das Kulturgut oder doch das Spielen? Die Herangehensweise an das Thema wäre völlig anders, wenn es das Spielen wäre. Und viel logischer. So logisch, wie eine Rezension zu einem Spiel eben das Spiel einordnet und nicht die eigene Spielerunde, die damit Spaß hat oder nicht.
Und das hier:
Aber mir ist lieber, jemand spricht mit Herzblut und Macken, anstatt irgendwelche idealistischen Standards zu verfolgen.
Es wäre mir lieber, jemand spricht mit Verstand und Kompetenz. Was nutzt Herzblut, wenn der Inhalt Quatsch ist. Da muss man dann auch keine Dreifachschraube mit der Tastatur bieten, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit dem Werk. Und dazu ist auch etwas Kompetenz erforderlich.
Und weiter ist es unwichtig, wie viele Partien jemand hinter sich hat. Das habe ich hier für uns mal erklärt:
Wie viele Partien vor einer Spielerezension?
Würde übrigens bei Büchern oder Filmen auch keiner verlangen. Und ja, Spiele sind anders. Denn Spielgruppen beeinflussen das Spielerlebnis. Aber nicht den Mechanismus und nicht die Intention, das Material oder Wertungsideen usw. des Werks. Genau die sind aber maßgeblich beim Rezensieren.
Es ist übrigens SEHR WOHL wichtig, die Zielgruppe zu beachten. Nicht im Sinn, dass schlechte Spiele "als Familienspiel reichen". Aber es ist einer guten Rezension unwürdig, als Experte und Kritiker die gleichen Maßstäbe für die Spieltiefe und Möglichkeiten bei Gloomhaven und Memory anzulegen. Das ist sogar ein gutes Beispiel für die oben genannte Diskrepanz: Wer das Spiel mit Zielgruppe, Eigenheiten und Mechanismen und Besonderheiten in seiner Rezension nicht in den Mittelpunkt stellt und in einen Kontext mit ähnlichen Spielen - offen nachvollziehbar oder hintergründig - bringt, wird keine gute Rezension verfassen können. Jedenfalls nicht, eine die der Intention von Synes Ernst entspricht.
Es ist daher auch für die Rezension und die Glaubwürdigkeit des Inhaltes nicht entscheidend, welche Spiele ein Rezensent mag. Denn es kommt auf eine Auseinandersetzung an, die dem Spiel gerecht wird, nicht aber dem Leser oder gar dessen Geschmack! Der Leser soll sich zwar eine Meinung bilden. Aber bitte doch anhand des Geschriebenen, nicht anhand des Spielregals des Rezensenten. (Was nicht meint, ein Rezensent sollte nicht idealerweise die Spielegattung KENNEN, was bei vorhandener eigener Vorliebe durchaus intensiver der Fall sein könnte.) Okay, so lange viele Rezensionen auf dem eigenen Geschmack fußen und dem Spielspaß des eigenen Dunstkreises, ohne aber das Spiel als Werk zentral zu bewerten, wird sich diese Haltung vieleicht auch nicht ändern.
Aber das mag tatsächlich ein Problem der Szene zu sein. Das macht sich bei uns tatsächlich an unterschiedlichem Zuspruch bemerkbar: Die SpieleRszene ignoriert unsere "Rezis" weitgehend, Verlage und Autoren schätzen uns sehr, Außenstehende (Zufallsleser, Gelegenheitsspieler usw.) schreiben uns tatsächlich häufger als Leute aus der Szene, soweit ich dies anhand von Namen und Inhalt der Anfragen und Meinungen zumindest einschätzen kann. Soll heißen: Die Erwartungshaltung IN der SpieleRszene ist offenbar eine andere als außerhalb oder in der Branche.
In diesem Sinne: Macht doch, was ihr wollt. Aber eine Rezension im Kulturbereich stellt eben das Produkt und nicht ALLEIN den Spaß beim Konsumieren in den Mittelpunkt. Genau das machen viele Spiele-Rezensenten anders und würdigen damit meiner Meinung nach das Spiel im Sinn der Kritik von Synes nicht ausreichend. Dann sind es mehr oder weniger kritische Betrachtungen, denen aber das Zeug zur fundierten und eben guten Kulturkritik fehlt. Oder aber: Produktbewertung im schlechten Sinn.