Synes Ernst hat letzten Monat einen Artikel zum Status der Spielekritik veröffentlicht [Mirror beim SdJ] und haut damit ganz gewaltig in die bekannten Kerben der Spieleblogger/-reviewer/-influencer/-rezensenten/-journalisten bzw. New Boardgame Journalism Diskussionen der letzten Jahre.
Da es keine Theorie zur Spielekritik gibt, greift er Theater- und Buchkritik auf und lehnt sich im Titel an Marcel Reich-Ranitzkis „Bessere Bücher und bessere Leser!“ an.
Die Kernpunkte einer guten Spielekritik sind nach Synes Ernst:
- Eine fundierte Grundlage durch mehrmaliges Spielen in verschiedenen Gruppen unterschiedlichster Zusammensetzungen ist unbedingt nötig: »Wer glaub- und vertrauenswürdige Aussagen über einen Titel machen will, besonders auch über seine Langzeitwirkung, muss eins: spielen, spielen
und nochmals spielen.«
»Ich staune, wie oft diese Grundvoraussetzung für eine kompetente Kritik missachtet wird. Kaum ist ein Rezensionsexemplar auf dem Tisch gelandet, wird schon eine Besprechung rausgejagt, schnell schnell, aber von vertiefter Auseinandersetzung keine Spur.« [… und es wird nur selten transparent gemacht.] - Keine Regelnacherzählung, Emotionen und Erlebnisse schildern: »Die gute Kritik stellt das Spielerlebnis ins Zentrum. Das macht sie lebendig und verleiht ihr im Gegensatz zum Nachbeten der Spielregeln Individualität und Farbe. Vorausgesetzt, die Autorin oder der Autor verfügen über die notwendige Sprachkompetenz, um die durch das Spiel ausgelösten Emotionen auch angemessen zu beschreiben.«
- Einordnung des Spiels durch Vergleich mit anderen, ähnlichen Titeln, Herausheben von Innovationen und Einzigartigem. Außerdem der Blick über den Tellerrand: »Ich möchte, dass die Spielkritik den Blick für andere Bereiche der Kultur öffnet und mir zeigt, ob und welche thematischen Beziehungen zwischen dem Spiel und Werken aus Literatur, Theater oder Film bestehen.«
- Auch die Bewertung gehört zum „Handwerk“. Allerdings mag er das Wörtchen „nett“ nicht sonderlich, »weil sich der Kritiker oder die Kritikerin hinter dem Begriff verstecken und sich – weil er es mit niemandem verderben will – nicht trauen, die
Wahrheit zu sagen. Ein „nettes“ Spiel ist nämlich in der Regel weder gut
noch schlecht, nichts Besonderes, Dutzendware halt, die ihren Preis
nicht wert ist.«
Er legt sogar noch nach: »Ich will von der Kritik keine Wischiwaschi-Aussagen, sondern ein eindeutiges Urteil, so subjektiv es auch ist. Solange für das Publikum eine Kritik nachvollziehbar ist, egal ob Verriss oder Empfehlung, solange weiss es diese auch einzuordnen.« - Er fordert Kritiker*innen auf, eine „klare Linie“ einzuhalten und nicht in die „Beliebigkeit“ abzugleiten. Neben der Kompetenz ist damit auch gewährleistet, dass sich die Leser*innen auf die Wertungen verlassen und sich daran orientieren können.
- Unabhängigkeit: Die Nähe zwischen Rezensenten und Spielebranche sieht er als „ein massives Risiko für eine unabhängige Spielkritik“.
- Fazit: Es braucht „eine Spielkritik, die nicht mehr zur Literaturkritik & Co. emporblicken muss, sondern sich auf der gleichen Höhe bewegt“.
Im Großen und Ganzen kann ich dem nur beipflichten. Spiegeln sich in dieser Liste doch so einige Punkte, die sich im Laufe der Jahre für mich als wichtig herauskristallisiert haben. Nebenbei liefert die Beschäftigung auch ein paar Erklärungsansätze, warum bestimmte Arten von Rezensionen bei mir so verfangen (vgl. ungewöhnliche(re) Rezensionen, Reviews etc.).
Sind das hehre Ziele?
Nein, denn es gibt sie ja, die Spielejournalisten und -kritiker, die den obigen Punkten regelmäßig, wenn auch nicht immer vollumfänglich gerecht werden.
Ja, weil diese Punkte kaum in allen Fällen und erst recht nicht von Amateuren und Semi-Profis eingehalten werden (können), auch wenn sich insbesondere die besser organisierten enorm darum bemühen (Reich der Spiele, Fairplay etc.).
Reaktionen:
@Ben2 jubilierte wohl innerlich (und auch verbal) aufgrund des Sturzbaches auf seine Mühlen Er erwähnt auch einen angedachten/geplanten Workshop des SdJ e. V. zum Thema Spielekritik. [s. u.]
Peer von abenteuer-brettspiele.de setzt sich in Die Sehnsucht nach der perfekten Brettspiel-Rezension – Ansprüche, Probleme, Lösungen sehr detailliert mit dem Artikel auseinander.
Der SdJ e. V. wird einen Tag der Brettspielkritik ausrichten:
Der Kulturjournalist Stefan Gohlisch (Neue Presse) wird zum Thema Kulturkritik und Feuilleton referieren, Daniel Wüllner (Süddeutsche Zeitung) wird nach journalistischer Qualität und Zielgruppen fragen, und Nicola Balkenhol (Deutschlandradio), Steffen Bogen (Professor für Kunstgeschichte), Synes Ernst (ehemaliger Vereinsvorsitzender "Spiel des Jahres") sowie Manuel Fritsch (Insert Moin) werden in einer Podiumsdiskussion den Blick über den Tellerrand wagen, unter anderem auf die Literatur- und die Computerspielkritik.
Das Spiel ist ein Teil unserer Kultur, die Spielkritik ist ein Teil der Kulturkritik. Deswegen möchten wir auch einen Blick über den Tellerrand auf die Literatur-, Theater- und Videospielkritik werfen. Wo steht die Brettspielkritik heute, was hat sich verändert, wo liegen die Perspektiven? Darüber möchten wir zum 40. Geburtstag von "Spiel des Jahres" in Podiumsrunden und Workshops diskutieren sowie in Arbeitsgruppen die Praxis in Augenschein nehmen.