Beiträge von MetalPirate im Thema „„Bessere Spiele für bessere Spieler“: Ein Plädoyer von Synes Ernst für Spielekritik mit Niveau“

    ["Kulturgut Spiel nach vorne (zu) bringen"]

    Zum Durchsetzen einer Agenda im Top-Down-Modus ist es wichtig, dass man das Ohr der Leute mit Macht und Einfluss hat, im gegebenen Fall also der Elite des Kulturbetriebes, besonders diejenigen mit Entscheidungskompetenzen.

    Ja und (ein bisschen auch:) nein.


    Ja, weil es so funktionieren sollte. Wenn z.B. der Merz Verlag in Person von Dominique Metzler den Präsidenten das Deutschen Kulturrates über die Spiel führt und in eine Podiumsdiskussion zum Thema "Kulturgut Spiel" setzt, ist das definitiv ein sinnvolles und richtiges Vorgehen, um "das Kulturgut Spiel nach vorne zu bringen".


    Aber das ist noch lange nicht ausreichend, weil die Realität manchmal anders läuft. Hast du das Video von der Podiumsdiskussion gesehen? Link hier: Podiumsdiskussion „Kulturgut Spiel“ („Politik und Spiel im Dialog“ SPIEL 2018)


    Da wurde gegen Ende aus dem Publikum etwas meiner Meinung nach sehr Zutreffendes eingeworfen und indirekt durch die Politiker auf dem Podium auch bestätigt: die ganze "Kulturförderung" ist oft einfach nur schön verbrämte Wirtschaftsförderung. Wenn die Brettspiele-Branche genug Umsatz generiert, um wichtig zu sein, also Arbeitsplätze, Steuereinnahmen, etc. bringt, dann wird die Politik schon Mittel und Wege finden, das als "kulturell wertvoll" zu fördern. Der Kulturbetrieb nimmt sich gerne sehr wichtig, aber vereinfacht gesagt gilt doch: wenn der Haufen nur groß genug ist, wird noch mehr dazu gesch*ssen und Kulturrat & Co müssen dann "nur" die guten Argumente für eine ohnehin befürwortete Förderung liefern. Sicher auch bewusst etwas zynisch formuliert, aber deshalb völlig falsch? Ich denke nicht.

    Für meinen persönlichen Geschmack wird hier manchmal etwas zu abgehoben argumentiert und zu viel überzeichnet. Auf der einen Seite "der Blogger soll einfach nur sagen, ob das Spiel toll oder Mist ist", auf der anderen Seite hohe und höchste Ansprüche mit Kontextualisierung und Referenzen zur Literaturkritik.


    Dabei ist's eigentlich doch gar nicht so kompliziert. Der Autor muss in allererster Linie kompetent sein. Er muss wissen, wovon er redet, und wenn er etwas behauptet, dann muss nachvollziehbar sein, wie er dazu kommt.


    Will er, dass man seine Sachen gerne liest bzw. ihm gerne zuschaut, dann muss es seine Sachen zusätzlich noch halbwegs unterhaltsam präsentieren. Will er, dass man seine Empfehlungen ernst nimmt, dann muss er zusätzlich noch halbwegs fair, einheitlich und unabhängig bewerten. Aber die Sachkompetenz steht immer an erster Stelle. Ohne die geht gar nichts, auch nichts bei den eher auf Unterhaltung getrimmten Formaten. Wenn jemand ahnungslos ist, dann fällt das oft schneller auf, als es dem Ahnungslosen lieb ist.

    Das Allerwelts-Kriterium "Spielspaß" ist so ein Fall, wo sich ganz schnell zeigt, wie kompetent jemand ist. Klar: am Ende muss der Blogger/Reviewer/Rezensent mir sagen, ob ich ein Spiel lieber einpacken oder im Regal des Händlers stehen lassen sollte, und die Aussicht, mit dem Spiel Spaß zu haben, ist ein ganz wesentlicher Faktor für die eine oder andere Entscheidung. Ja, aber woher kommt denn dieser "Spielspaß"? Der fällt doch nicht vom Himmel, der kommt doch irgendwo her, und genau das soll mir der Reviewer sagen! Der gute Reviewer faselt nicht nebulös von "Spielspaß", sondern sagt konkret, was an einem Spiel Spaß macht, so dass ich mir überlegen kann, ob mir das auch Spaß bringen könnte.


    Was genau ist an dem Spiel toll (oder andersrum nicht so toll?) Ist es der Spielfluss mit kurzen, schnellen Spielzüge ohne viel Downtime? Ist es das Gefühl, am Spielende etwas erschaffen zu haben? Ist ein toll umgesetztes Thema, bei dem ich das Gefühl habe, es mittendrin nachzuerleben? Kommt der Spielspaß daher, dass es zu fünft oder zu sechst besonders toll ist, besser als vergleichbare Spiele?


    Ja, ein Reviewer muss mir eigentlich "nur" sagen, ob ein Spiel Spaß macht oder nicht. Aber wenn er das gut und kompetent machen will, muss er dabei automatisch vieles von dem erfüllen, was in den alle paar Jahre wieder auftauchenden "Sonntagspredigten" (wie hier von Dr. Synes Ernst) zu hören ist. Man muss manchmal einfach nur ein bisschen elitäres Gehabe da rausstreichen (und idealerweise mit einem bisschen Verständnis für Vermarktung ersetzen), aber dann müsste eigentlich jeder anerkennen können, dass das rein inhaltlich größtenteils richtig ist, wenn der Reviewer/Blogger/Rezensent den Anspruch hat, mit seinen Empfehlungen ernst genommen zu werden.

    Der Anspruch, ein Spiel vor dem Hintergrund der angestrebten Zielgruppe bewerten zu wollen, wie du es ausdrückst, das wäre meinem Verständnis nach sogar eine ziemlich treffende Definition von Produktberatung.

    Schon richtig. Aber wenn du die Perspektive wechselst von der Einteilung der Konsumenten (Spieler, Zuschauer, Leser, etc.) zu einer dazu weitgehend korrespondierenden Einteilung des besprochenen Kulturgutes in Subgenres, also in unserem Falle z.B. Familienspiele, Expertenspiele, Absacker, etc., dann bist du dann doch wieder bei Kategorien, die in Rezensionen zuhause sind. Wenn wir Thygra s Punkt mal als "bespreche Absacker mit den Maßstäben für Absacker und Expertenspiele mit den Maßstäben für Expertenspiele" umschreiben, dann wäre ich da ganz bei ihm. Diesen Schritt zu den Genres muss man aber schon machen. Beim "Zielgruppen gehören nicht in Rezensionen" wäre ich nämlich eher bei dir.

    Ach so, nur weil DU ohne Interaktion nicht spielen würdest, ist dies also ein Kriterium, das man generell negativ benennen soll. Ja nee, is klar ...

    Ich habe "für mich" geschrieben, das war keine allgemeingültige Forderung. Wenn ich (!) ein Spiel bewerte, z.B. im Rahmen eines Spielberichtes hier bei Unknowns, dann ist totale Interaktionsarmut bei mir immer ein Minuspunkt. Wenn ich das so empfinde, dann sage bzw schreibe ich das auch. Aber selbstverständlich so, dass man nachvollziehen kann, woher ein eventueller negativer Gesamteindruck kommt, so dass derjenige, der mit Multiplayer-Solitär kein Problem hat, das entsprechend "herausrechnen" kann.


    Das von dir genannte Spiel (Take it Easy) kenne ich nicht, aber auch da würde ich es nicht wesentlich anders machen, wenn das Spiel z.B. nach einem Spieleabend als Absacker gespielt würde. Wenn mein Spielbericht dazu beiträgt, andere Leser davor zu warnen, dass irgendwas "parallel nebeneinander her spielen" bedeutet, so dass sie bei der Wahl des Absackers in ihrer nächsten Spielerunde sich im Zweifelsfalle für ein besseres Spiel aussprechen können, dann wäre für mich auch ein Ziel einer Spielebesprechung erreicht.


    Um es nochmal zu betonen: solange nachvollziehbar bleibt, warum man etwas gut oder schlecht findet, habe ich kein Problem damit, wenn einzelne Reviewer bestimmte Sachen mögen oder nicht mögen, und das muss dabei auch keineswegs mit meiner Meinung übereinstimmen.

    Die Info, dass ein Spiel keine oder wenig Interaktion enthält, gehört selbstverständlich in eine Rezension, und zwar bei der inhaltlichen Auseinandersetzung. Aber diese Info muss wertfrei sein!

    Da stimme ich dir nur teilweise zu. Richtig ist: Es gibt Eigenschaften von Spielen, die klar auf einer Skala von gut bis schlecht zu verorten sind, und es gibt andere Eigenschaften, die bei dem einen Leser (bzw. der einen Zielgruppe) ein Minuspunkt sind, während sie bei anderen neutral beurteilt werden oder gar positiv. Je unterschiedlicher die Wahrnehmung von etwas sein kann, umso neutraler und wertfreier sollte ein Reviewer die entsprechende Eigenschaft schildern -- jedenfalls sofern derjenige den Anspruch hat, viele Leser anzusprechen und nicht einen kleinen Kreis von Fanatikern mit Scheuklappen.


    Ich würde dir jedoch nicht zustimmen, dass sowas wie Interaktion(sarmut) generell völlig wertfrei zu betrachten wäre, auch nicht bei bestimmten Spielegenres. Es gibt nicht nur die klar zu bewertenden und die klar wertfreien Eigenschaften, sondern ganz, ganz viele Grautöne dazwischen. Totale Interaktionsarmut ist für mich z.B. immer negativ besetzt, auch unabhängig von irgendwelchem Zielgruppenzeugs. Ohne jede Interaktion brauche ich nicht mit anderen Menschen spielen, dann könnte ich auch alleine Puzzles lösen.


    Interaktion muss für meinen Geschmack deshalb nicht völlig wertfrei geschildert werden; weniger stark wertend als beispielsweise mechanische oder thematische Schwächen wäre für mich schon völlig okay. Wie stark was gewichtet wird, ist dann ein -- mir sehr willkommenes! -- Unterscheidungsmerkmal zwischen den einzelnen Reviewern. Da habe ich auch überhaupt nichts dagegen, wenn bei einem Reviewer klar ist, dass er beispielsweise Interaktion jenseits von Wattebäuschchen-Schmeißen nicht mag (z.B. Rahdo), auch wenn mein persönlicher Geschmack ein anderer ist. Wer Reviews liest bzw. Videos schaut, anstatt direkt zum Fazit zu springen, kann auch solchen klar persönlich gefärbten, jedoch möglichst fair wertenden Reviews sehr viel Information heraus ziehen. Auf jeden Fall auch mehr als aus dem "für die richtige Zielgruppe ist das sicher ein tolles Spiel"-Geschwurbel, das manche Reviewer regelmäßig verbreiten, weil sie sich nicht trauen, etwas Negatives zu sagen.

    ["gegenstandslose" Meinung]

    1)Du vertraust ihm aber ja aufgrund von Expertise - wenn die Behauptungen dieser Person aber immer haltlos waren, dann hättest du ihm nicht vertraut. Das setzt dieses Vertrauen für mich auf die verlängerte Bank: Irgendwann hat der Mal begründet argumentiert. Sonst würdest du ihm nicht das Vertrauen schenken. Das heißt nicht, dass man von Anfang an einfach mal nur Behauptungen in den Raum stellen kann.


    [Begründung für Startspielervorteil]
    2) Je nach Spiel kommt die Behauptung ja hoffentlich nicht von ungefähr - ich muss das ja auf was stützen. Sei es weil wir eine ungerade Anzahl Runden Spielen und der Startspieler damit einmal weniger oder einmal mehr dran ist, je nach Spiel und Ende usw. usf. Das ist ja nun abhängig vom Spiel, wie komplex diese Aussage ist. Aber es sollte nur ein Beispiel für ein typisches "Argument" und dessen Begründung sein.

    1) Volle Zustimmung. Vertrauen erwirbt sich ein Reviewer / Rezensent über die Zeit. Wobei das auch ein wenig deine strikte Trennung zwischen Meinung und Argument auflöst. Wer bereits nachgewiesen hat, argumentieren zu können, dem gesteht man eben auch zu, eine "bloße" Meinung in Rezensionen zu haben und diese nicht immer haarklein belegen zu müssen (bzw. nur auf Nachfrage).



    2) So offensichtlich falsch ist das nur bei den richtig schlechten Spielen, und da erübrigt sich das mit dem feingeistigen Sezieren ohnehin. Der Unterschied zwischen den mittleren, guten und sehr guten Spielen spielt sich auf einer anderen Ebene ab. Da ist's dann sofort sehr schwer und oft auch umständlich, sauber und nachvollziehbar zu argumentieren.



    Beispiel Carpe Diem. Vier Runden mit im Uhrzeigersinn wechselndem Startspieler. Im 2er spielt startet man mit 8/9 SP, im 4er mit 8/9/10/11. Im 3er startet man nicht etwa mit 8/9/10, sondern mit 8/9/13 SP. Oha. Das ist ziemlich offensichtlich der Ausgleich dafür, dass bei vier Runden und drei Spielern nicht mehr jeder gleich oft an jeder Position sitzen kann. Der Dritte hat z.B. die Positionen 3/2/1/3 (die anderen haben Positionen 1/3/2/1 und 2/1/3/2). Ja, 3/2/1/3 ist unschön in solchen Spielen. Aber sind 4 SP Vorsprung vor dem Zweiten jetzt passend? Und warum nur ein Punkt zwischen Erstem und Zweitem? Ich weiß es nicht. Aber da sind wir wieder beim Vertrauen: ich gehe davon aus, dass Stefan Feld und Alea das gründlich getestet haben. Deshalb würde ich sowas normalerweise in einem Review nicht thematisieren.


    Gefühlsmäßig hätte ich allerdings bei Carpe Diem eher sowas wie 8/10/13 erwartet, denn nur 1 SP Differenz zwischen den ersten beiden Spielern gibt es ja schon im 2er und 4er, wo jeder jeder Position gleich oft hat. Im 3er ist die durchschnittliche Position 1,75 / 2,00 / 2,25, d.h. den äquidistanten Positionen hier entspricht dann ein 1:4 Unterschied in den Differenzen bei der Startpunktzahl. Kommt mir, ehrlich gesagt, etwas merkwürdig vor. Eine gewisse Nichtlinearität ist zu erwarten, denn gerade in der ersten und letzten Runde kann die letzte Position in der Reihenfolge schon sehr undankbar sein (alle guten Engine Buiding bzw. Endwertungs-Sachen weg), aber den Zweiten so behandeln wie im 4er-Spiel, während man dem Dritten im Vergleich 3 Extrapunkte schenkt? Aber bei Feld gehe ich davon aus, dass das passt (und über einen SP plus/minus braucht man sich auch nicht streiten). Außerdem: beim 08/15-Kickstarter-Spiel hätte man hier vermutlich 8/9/10 gehabt und das wäre dann offensichtlich schief gewesen. Das 8/9/13 zeigt hier zumindest mal, dass man sich mit diesem Problem beschäftigt hat und das gilt so nicht immer, auch bei namhaften Autoren. Bei #Nusfjord bin ich mir beispielsweise relativ sicher, dass der Startspielerausgleich im 5er-Spiel nicht funktioniert.

    EIn Gefühl ist ein Gefühl. Kein Argument. Ein Gefühl führt zu einer Meinung, aber nicht zu einer argument-gestützen Rezension.

    Ja. Soweit bin ich noch voll bei dir.


    "Es fühlt sich für mich so an, als ob es einen Startspielervorteil gibt". - das ist vollkommen gegenstandlos so eine Aussage.

    Jein. Wenn das jemand sagt, dem ich vertraue, dann ist das für mich nicht mehr "vollkommen gegenstandslos". Weil sich das bei realen Spielen nur mit völlig unverhältnismäßigem Aufwand im strengen Sinne beweisen lässt (siehe unten), bin ich sogar darauf angewiesen, dass sich jemand traut, das auf der Ebene des "educated guess", als "ich habe mir einige Gedanken gemacht, ich behaupte sowas nicht einfach so, aber hier habe ich das Gefühl, dass das nicht stimmt!" zu formulieren, wohlwissend, dass er in einem öffentlichen Forum sofort von der "du hast das Spiel nicht X Mal in jeder denkbaren Spielerzahl mit allen denkbaren Setups gespielt!"-Fraktion angegangen werden wird.


    Entweder ich kann erklären, warum es einen gibt, oder eben nicht. Dann sollte man das in einer Rezension auch lassen - gibt es aber einen, der auch zum Beispiel nicht ausgeglichen ist, muss ich das auch feststellen können und begründen.

    Ganz konkret: Wie stellst du dir denn eine Begründung für "es gibt einen Startspielervorteil" vor? Mit "ich habe ich es jetzt 10 Mal gespielt und 5 Mal hat der Startspieler gewonnen" wärst du meiner Meinung nach immer noch voll im Bereich von Gefühl und Meinung drin und nicht bei den Argumenten.


    Das wirkliche Begründen solcher Aussagen ist bei Spielen sofort viel schwieriger als in den ganzen literarisch/künstlerischen Bereichen. Da steckst du sofort knietief in der Angewandten Mathematik (und verwandten Gebieten) drin. Harte Wissenschaft. Diskrete Optimierung, Spieltheorie, Modellbildung mit Differenzial- (oder besser: Differenzen-) Gleichungen, Systemtheorie; und dazu dann Statistik, Computersimulation, künstliche Intelligenz etc., um all die hochkomplexen Modellen wenigstens halbwegs in den Griff zu kriegen. Interaktive Mehrspieler-Spiele mit Zufallselementen sind da nochmal eine ganz andere Liga schwerer zu behandeln als rein deterministische 2er-Spiele wie Schach, die heutzutage Computer schon besser als die meisten Menschen im Griff haben. Und für Foren gilt dann ganz schnell: Die Leute, mit denen so sowas ernsthaft auch nur diskutieren kannst, musst du erstmal suchen -- während die Dummschwätzer dich sofort in unnütze Nebendiskussionen reinziehen.

    Ich bin vielleicht schon zu spät dran, aber ich habe erst jetzt den im Startbeitrag verlinkten Artikel von Synes Ernst gelesen und mir ein paar Gedanken gemacht. Ganz im Sinne des Artikels geht es ja auch hier nicht primär darum, nur besonders schnell Meinungen ins Internet heraus zu blasen... :)


    Was mir in fast allen Diskussionen zum Umgang mit Spielen zu kurz kommt, ob hier beim Thema Kritik oder z.B. bei der jüngst verlinkten Podiumsdiskussion zum Thema "Spiele als Kulturgut", ist das Bewusstsein dafür, welche riesige Bandbreite Spiele abdecken. Das geht ja von HABA-Sachen wie "Mein erster Obstgarten" bis zum todernsten Simulationsspiel von 6+ Stunden Dauer mit an die 100 Seiten Regeln. Es geht vom Partyspiel zur lockeren Unterhaltung bis zum wettbewerbsmäßig betriebenen Denksport. Das kann man auch in Sachen "Spielkritik" nicht alles über einen Kamm scheren.


    Die Bandbreite von Brett- und Kartenspielen ist viel breiter als die von Videospielen oder Filmen. Selbst Bücher können da nur mithalten, wenn wir die Bilderbücher für die Kleinsten mitzählen. Kinder spielen schon viele Jahre, bevor sie lesen können. Das Problem der Spieleszene ist jetzt, dass "wir" in dem Gefühl, im Vergleich zu anderen Hobbys oder Wirtschaftszweigen etwas zurückgesetzt behandelt zu werden ("Brettspiele sind doch nur etwas für Kinder!"), manchmal meinen, uns als eine große Gruppe sehen zu müssen und dabei verlernt haben, innerhalb unseres riesengroßen Bereiches da zu differenzieren, wo es auch mal notwendig ist.


    Wir freuen uns, wenn Bildungsforscher den Wert des Spielens für Kleinkinder loben und fühlen uns auch als Spieler von Great Western Trail oder Terraforming Mars damit getäschtelt. Unsinn! Wir diskutieren teils voller Insbrunst über den kulturellen Wert von Spielen, loben Spiele wie die genannten oder Sachen wie Haspelknecht, weil sie uns ermuntern, uns mit einem Thema zu beschäftigen ... und vergessen, dass wir einmal in der Woche zum Spieleabend fahren, nicht um hochkulturellen Austausch zu betreiben, so'n Quatsch!, sondern primär einfach als schnöde Hobbybeschäftigung. (Was völlig okay ist!) Wir diskutieren hochtrabend Kriterien von bzw. Ansprüche an Videoreviews und was machen wir, wenn wir von einer tollen Neuheit hören? Na klar: BGG aufrufen, Video-Tab, erstes verfügbares Video klicken...


    Bleiben wir doch alle mal ein bisschen realistisch. Das ist mein erste Wunsch. Der zweite wäre, etwas präziser zu sein. Viele, die irgendwelche allgemeineren Aussagen zu Spielen treffen, beziehen sich implizit auf einen bestimmten Teil der Spieleszene. Spiele als Kulturgut, Spiele zur Förderung intellektueller Fähigkeiten, Spiele zur Förderung von Sozialkompetenz, usw. -- alles irgendwo richtig, aber nur für bestimmte Teilbereiche unserer Spieleszene. In anderen Bereichen schlicht falsch, und das darf man auch ruhig zugeben. Möchte jemand wirklich die Eignung von Looping Louie (als Kinderspiel und darüber hinaus, ihr wisst schon, was ich meine) in der Art einer Literaturkritik besprochen sehen? Oder für Looping Louie als Kulturgut argumentieren? Doch wirklich nicht!


    Klar ist: Spiele haben selbstverständlich Anknüpfungspunkte in Richtung Kultur, und da kommen dann natürlich auch Ansprüche an Kritiken und Kritiker zustande, wie man sie auch völlig zurecht an andere Kulturgattungen stellt. Wer als qualitätsbewusster Spielekritiker einen gewissen Anspruch an sich selbst stellt, ist in jedem Falle gut beraten, sich damit zu beschäftigen, welche Konventionen sich für Kritiken und Reviews auch anderswo entwickelt haben.


    Aber ist das der einzig erlaubte Weg, Texte oder Spiele zu schreiben oder Videos über Spiele zu machen? Definitiv nein! Ich kann doch keinem das Recht absprechen, im Wochenbericht hier seinen Ersteindruck zu schildern! Ganz im Gegenteil: ich freue mich doch, sowas zu lesen. Dass ist das nicht überbewerte und nicht zuviel reininterpretiere, ist ganz allein meine Pflicht und Aufgabe als Leser.


    Ein Merkmal unser heutigen Zeit ist, dass keine größeren Hürden existieren, um seine Ansichten weltwelt bekannt zu machen -- mit allen Vor- und Nachteilen. Jemand mit viel Ahnung von Spielen möchte seine Ansichten anderen mitteilen? Wunderbar, soll er ruhig tun! Es ist doch schön, dass man dazu im Jahre 2018 dazu kein festangestellter Journalist mehr sein muss! Ja, sogar so ein -- aus meiner Sicht -- gequirlter Unfug wie "Unboxing-Videos" hat seine Berechtigung, wenn genügend Leute sowas sehen wollen. Solange sich niemand, der bloß gut Spieleschachteln vor laufender Kamera auspacken kann, sich deshalb als "Spieleexperten" bezeichnet, ist das doch gar kein Problem.


    Der leichte Zugang zu Medien hat jedoch einen Preis. Sagen wir's ganz offen: man wird von Müll überschwemmt. Ist systembedingt, lässt sich nicht ändern. Wenn früher Musiker einen Plattenvertrag brauchten, Schreiberlinge eine Festanstellung bei einer Zeitung oder bildende Künstler Stipendium, Erfolg, Nebenjob oder am besten alles zusammen, dann war das auch eine Art Qualitätsfilter. Heute kann jeder seinen Rotz per Internet in die Welt blasen. Ja, selbst der Unboxing-Held, der von nichts eine Ahnung hat und keinen korrekten deutschen Satz herausbringt, darf sich theoretisch Spieleexperte nennen, ohne dass ihm jemand widerspricht (könnte schon, aber das macht natürlich keiner, einfach weil's nicht bringt, höchstens Ärger mit den überzeugten Fans des Videoerstellers.)


    Das heißt dann natürlich fast zwangsweise, dass es zum Scheitern verurteilt ist, irgendwelche Qualitätsansprüche verbindlich einzufordern. Das widerspricht dem allgemeinen Recht aller Youtuber, beliebigen Schrott produzieren zu dürfen. Die guten Spielekritiken und -reviews werden immer eine Minderheit bleiben, die man mit der Lupe suchen muss; das war noch nie anders. Das gilt außerdem umso mehr, wenn man als qualitätsbewusster Leser den Autor nicht für seine Leistung bezahlt, d.h. wenn der Autor entweder seine Hobby-Leistung kostenlos erbringt oder über eine eingeplante Kommerzialierung sich dem Zwang unterwirft, das zu produzieren, was möglichst schnell möglichst viele Klicks bringt.


    Das bringt mich zu meinem Fazit der ganzen immer wieder aufkommenden Rezensions-Diskussion. In der Internet-Zeit ist es allein Sache der Konsumenten, die dem eigenen Anspruchsniveau gemäßen Beiträge aus einer Flut von Informationen unterschiedlichster Güte herauszufiltern. Weniger, weil's so herum toll wäre, sondern eher gezwungenermaßen, weil's einfach nicht anders geht. Das ist manchmal schwer, aber zum Glück ist man damit nicht alleine. Erstaunlich vielen geht's ähnlich. Bezahlte Werbung will doch niemand als Review untergejubelt bekommen, und Reviewer, die in jedem Monat 20 frisch gestartete Kickstarter-Projekte zum Mitbacken empfehlen, haben ganz schnell ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Sehr viele Menschen in unserem Hobby suchen etwas Besseres.


    Okay, also was hilft dabei, einen gewissen Qualitätsanspruch hoch zu halten? Ich glaube, wir sollten zwischen drei Bereichen unterscheiden:

    • Denen, die gute Reviews schreiben, muss man auch signalisieren, dass man ihre Arbeit schätzt. Diese Arbeiten sollte man auch weiterempfehlen, auch wenn man manchmal der Meinung ist, dass alle nur den Schund toll finden und man als qualitätsbewusster Mensch ziemlich alleine wäre. (Wer das elitär findet, soll es ruhig!)
    • Was einem egal sein kann, einfach mal stumpf ignorieren. Das ist die große Masse der Sachen. Auch wenn jemand Aussagen trifft, die nur unter gewissen Einschränkungen oder für einen Teilbereich der breiten Spieleszene gelten, dann reicht es, diese Einschränkung ggf. nachzuliefern, wenn überhaupt nötig. Da muss man nicht argumentieren, dass die Aussage an sich falsch wäre oder diese Art von Ersteindruck/Unboxing/Sonstwas generell blöd. Wenn jemand seinen Vorabeindruck einer unveröffentlichten Neuheit (z.B. Kickstarter) nur aufgrund von Regellektüre, dann ist das doch wunderbar (und in Normalfall auch informativer als "paid previews"), solange derjenige nicht von sich behauptet, schon alles zu dem Spiel zu wissen.
    • An den wenigen (!) Stellen, wo in Reviews wirklich mal offensichtlich schlecht/unsauber/unsolide gearbeitet wurde (Falschinformationen, Abhängigkeiten, falsche Schlussfolgerungen), sollte man auch ruhig mal sehr gezielt den Finger in die Wunde legen. Dazu darf man sich aber nicht über jeden Mist aufregen, sondern muss das sehr dosiert und gezielt einsetzen. Wer unsauber oder abhängig arbeitet, darf auch ruhig mal mitkriegen, dass nicht alles erlaubt ist.

    Das wichtigste ist der mittlere Punkt. Ein Großteil der Aufregungen, auch hier im Forum, ist schlicht nicht notwendig. Lasst den Leuten ihre Meinung, denkt euch euren Teil, und gut ist's. Bei den extremeren Verfehlungen Kritik üben reicht völlig aus.