Beiträge von Bierbart im Thema „„Bessere Spiele für bessere Spieler“: Ein Plädoyer von Synes Ernst für Spielekritik mit Niveau“

    Hat eine solche, ich nennen sie mal "intellektuelle Spielkritik" (...) überhaupt eine Relevanz, um das Kulturgut Spiel nach vorne zu bringen? Oder wäre eine solche Spielkritik nur dazu angetan, dass sich die elitären Denker gegenseitig auf die Schulter klopfen, während die relevante Kosumentenmenge, die den Markt bestimmt, sich weiterhin den Boardgamedigger reinzieht und damit bestens zufrieden ist?

    Beides, würde ich sagen. Zum Durchsetzen einer Agenda im Top-Down-Modus ist es wichtig, dass man das Ohr der Leute mit Macht und Einfluss hat, im gegebenen Fall also der Elite des Kulturbetriebes, besonders diejenigen mit Entscheidungskompetenzen. Ich bin davon überzeugt, dass man von solchen Leuten erst dann für voll genommen wird, wenn man zeigen kann, dass man der Materie intellektuell und handwerklich auch gewachsen ist. Dass sich solche Intellektuelle andererseits oft gerne selbstverliebt an ihrem eigenen Intellekt ergötzen, obwohl sie im Grunde nur das Perpetuum mobile des eigenen Diskurses betreiben, ist dabei freilich die Kehrseite der Medaille.


    Ob und wie solche eine "intellektuelle Spielkritik" vom Gros der Spieler angenommen würde, ist dabei im Grunde egal, solange eben die nur richtigen Leute darauf aufmerksam werden. Insgesamt wäre das eben eine qualitative Ergänzung zum bisher dagewesenen und somit auf jeden Fall bereichernd. Ich sehe auch keinen Grund, warum die verschiedenen Formate und Rezensionsniveaus nicht nebeneinander existieren können sollten.

    Ich bin seit 30 Jahren Kritiker. Und die Diskussion ist im Wesen immer gleich. Statt zu schauen, dass man in der Sache weiter kommt, wird der Kritiker bloßgestellt und soll es besser machen. DAS IST NICHT SEINE AUFGABE! Er hat die Aufgabe, Kritik zu üben. Mehr nicht.

    Dazu gibt es für den Kritiker exakt eine Ausnahme: Das Verfassen von Kritiken. Da gibt's kein Entrinnen. :)

    Synest Ernst hat hohe Anforderungen an eine Spielkritik aufgestellt und dabei wird es sicher noch etliche andere Anforderungen an so eine Spielkritik geben, an die er bisher nicht gedacht oder in seinem Artikel nicht angesprochen hat. Die Messlatte liegt also enorm hoch. Jetzt bleibt die Frage, warum sich jemand diese Mühe machen sollte, eine solche Spielkritik zu verfassen?

    Mir würde das zweifellos viel Mühe machen; dir und den allermeisten von uns vermutlich ebenfalls. Aber für einen Kosmopoliten mit breit aufgestelltem Wissen über viele Bereiche von Kunst, Kultur, Gesellschaft usw. ist es vermutlich nicht schwer, solche Zusammenhänge herzustellen, die eben den qualitativen Unterschied zwischen dem skizzierten Ideal und dem (vermeintlichen?) Ist-Zustand der Spielekritik ausmachen.


    Konkretes Beispiel: Erinnert ihr euch noch an die Istanbul-Kritik, in der das Spiel mit dem Orientalismus-Hammer bearbeitet wurde? Das fanden damals viele von uns zwar ärgerlich bis lächerlich (ich selber übrigens auch), aber völlig ungeachtet dessen ist dieser interdisziplinäre Blick über den Tellerrand grundsätzlich genau das, was von Synes Ernst unter anderem gewünscht wird. Und darin liegt auch der Mehrwert eines solchen Ansatzes, also im Aufzeigen von Zusammenhängen (was man bisweilen eben auch "Kontextualisierung" nennt). Ich bin mir sicher, dass dieser Ansatz langfristig honoriert würde.


    Um deine Frage von oben nach der Mühe und der Motivation wieder aufzugreifen: Es kommt eventuell gar nicht darauf an, dass sich jemand ohne das entsprechende Wissen in an diesem Ansatz versucht, sondern eher darauf, dass jemand mit einem Fundus an Wissen und dem handwerklichen Können auf die Idee kommt, sich anstelle von Theaterstücken etc auch mit Brettspielen zu beschäftigen?

    Was ich mir allerdings als limitierenden Umstand einer derartigen Brettspielkritik noch vorstellen könnte: So ein Spiel ist nicht sehr dankbar zu "interpretieren", einfach darum, weil es im Unterschied zu Büchern, Filmen, Theaterstücken oder sogar der bildenden Kunst oft kaum Substanz anbietet, mit der man arbeiten könnte.

    Jemand wie du -- Kritiker, hauptberuflicher Journalist und engagierter Einforderer hoher Standards -- sollte aber mit gutem Beispiel vorangehen.

    Meinst du damit, du bist der Meinung, dass er das zur Zeit nicht tut?

    Ist zumindest nicht mein Eindruck. Ich glaube, es war aber anlässlich der Welle um das peinliche Fairplay-Editorial, dass ich ein, zwei seiner Kritiken gelesen habe. Die Texte, die ich damals erwischt habe, fand ich durchaus okay, insofern Respekt und Anerkennung für die Mühen. Nur: Die hohen Ideale, über die wir hier in der x-ten Neuauflage reden und die insbesondere er immer wieder bemüht, habe ich darin nicht entdeckt. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass da besonders viel Ehrgeiz drinsteckte, eine in diesem Sinne vorbildliche oder zumindest bessere Kulturkritik schreiben zu wollen -- zumindest so, wie ich sie erwarten würde, also eben nicht primär als Konsumberatung, sondern als eine von Zielgruppen unabhängige Bewertung als kreatives Werk usw. Ich würde mich allerdings aufrichtig darüber freuen, diesen Eindruck zurechtrücken zu können. Die Motivation finde ich ja unterstützenswert. :)

    (...) Wir diskutieren über einen Artikel, der eine Auseinandersetzung mit dem Spiel fordert. Also darüber, wie eine Rezension aussehen soll. Wir diskutieren aber nicht darüber, dass die irgendwer auch so umsetzen muss. (...) Aber zu sagen, wie es aussehen sollte, bedeutet weder, es selbst so machen zu müssen, noch damit andere aufzufordern, sich daran zu halten.

    Jemand wie du -- Kritiker, hauptberuflicher Journalist und engagierter Einforderer hoher Standards -- sollte aber mit gutem Beispiel vorangehen. Sonst nimmt deine Statements nämlich irgendwann kein Mensch mehr ernst. :)

    Reich der Spiele  MetalPirate
    Da bin ich nicht bei euch. Eine Kulturkritik möchte ein beliebiges kulturelles Werk ganzheitlich betrachten. Ob der Rezipient daraus eine Empfehlung für sich ableiten kann oder nicht, sollte dabei keine Rolle spielen. Daher halte ich es für fundamental falsch, eine Rezension bzw. Kritik von vornherein auf einen bestimmten Empfängerkreis zuzuschneiden.


    Ich kann mich daran erinnern, dass du einmal erwähntest, gerne DLF zu hören, MetalPirate? Mache ich auch gerne. Wir sind daher vermutlich beide ganz gut vertraut mit der Art und Weise, wie auf diesem Sender Theaterinszenierungen und literarische Werke rezensiert werden. :) Ich kann mich nicht daran erinnern, in diesen Formaten jemals etwas darüber gehört zu haben, für welche Zielgruppe ein Buch oder eine Aufführung oder auch ein Film geeignet seien. (Wobei das sicher ab und zu sehr lustig wäre: "Der neue Roman von Paolo Coelho bedient in seiner von unerträglichem Kitsch überfrachteten Sprache ein weiteres mal den Eskapismus gelangweilter Zahnarztgattinnen aus Hamburg-Blankenese", oder etwa in der Art). ;)


    Entsprechend wäre meine Herangehensweise an eine Spielekritik: Ich mag beispielsweise kein einziges Spiel von Uwe Rosenberg. Agricola hasse ich regelrecht (weil es all das verkörpert, was mir an Euros nicht gefällt). ABER: Eine Kritik, die dieses kreative Werk versteht und richtig einordnet, das seine Bedeutung für die Entwicklung des Genres würdigen kann, die ein Verständnis für die verschiedenen Facetten des Hobbys Brettspiel zeigt -- die würde ich sofort lesen und außerordentlich wertschätzen. Oder anhören und wertschätzen. Oder anschauen und wertschätzen. Ganz klar!

    Ziel- bzw. Käufergruppen anzusprechen fällt in den Bereich "Produktberatung".

    Da hast du etwas missverstanden. Es geht nicht darum, die Zielgruppe anzusprechen, sondern das Spiel vor dem Hintergrund der angestrebten Zielgruppe zu bewerten. Das ist etwas völlig anderes.

    Der Anspruch, ein Spiel vor dem Hintergrund der angestrebten Zielgruppe bewerten zu wollen, wie du es ausdrückst, das wäre meinem Verständnis nach sogar eine ziemlich treffende Definition von Produktberatung.


    "Zielgruppe" -- das ist eine Begrifflichkeit aus dem Marketing. Es ist nach meinem Stand des Wissens kein Begriff aus der Kritik. Falls doch, wo steht das? (Ich frage erstens, weil es mich tatsächlich interessiert, und zweitens, weil ich den Verdacht habe, dass du deine Zielgruppen-These im Zusammenhang mit der Kulturkritik aus der Luft greifst.)

    Bandida  DamonWilder Das von mir erwähnte Fachbuch ist keine Einführung in die Literaturkritik. Es ist ein Werk, das allgemeingültige Prinzipien einer kulturkritischen Auseinandersetzung darstellt -- unter anderem eben dadurch, dass es Beispiele aus der Literaturkritik heranzieht. Die Grundsätze aber kann man ohne Einschränkung auf eine Brettspielkritik anwenden.

    Ziel- bzw. Käufergruppen anzusprechen fällt in den Bereich "Produktberatung". Mit "Kritik" im Sinne von "Kulturkritik" hat das aber nichts zu tun -- es sei denn, man unterstellt, dass "Kritik" und "Produktberatung" gleichbedeutend oder zumindest überwiegend deckungsgleich seien. Dass aber eben genau das der Denkfehler hierbei ist, stellt für mich die zwischen den Zeilen stehende Kernaussage von Synes Ernsts Beitrag dar.


    Übrigens ist es ja auch nicht so, als gäbe es dazu keine Fachbücher, auf die man sich dabei berufen könnte. Das Buch von Stephan Porombka "Kritiken schreiben" (UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz, 2006) liegt aufgeschlagen neben mir. Das Wort "Zielgruppe" kommt in diesem Buch noch nicht einmal vor. Darum würde mich schon interessieren, wo diese Zielgruppen-These überhaupt herkommt.


    Schnell nochmal zurück zum Thema "Wo sind die Vorzeigebeispiele für Brettspielkritiken, die Synes Ernsts Idealvorstellungen entsprechen?". Ich habe weiter oben danach gefragt, aber habe mich dabei nicht präzise genug ausgedrückt. Ich hätte besser konkret nach deutschsprachigen Beispielen fragen sollen, und das aus einem bestimmten Grund: Die wiederkehrende Diskussion um "Brettspiel-Journalismus 2.0", qualifizierte Kritiken, "Kulturgut" ... scheint ein (Medien-)Phänomen des deutschsprachigen Raumes zu sein. Okay, ich weiß tatsächlich nicht, ob und ggf wie darüber auch in Polen, Frankreich oder Portugal diskutiert wird, aber nimmt man die globale BGG-Community zum Vergleich, so fällt auf, dass dieser Themenkomplex dort deutlich weniger Aufmerksamkeit erfährt, und das sicher nicht darum, weil die Leute dort blöder oder weniger "kultiviert" wären, zumal die genannten Beispiele der unterhaltsamsten und anspruchsvollsten Kritiken auffallenderweise vor allem aus dem englischsprachigen Raum kommen.


    Mit anderen Worten: Es sind allem Anschein nach vor allem deutschsprachige Journalisten, die diese Themen auf der Agenda haben und immer wieder pushen. Und mir zumindest ist bislang eben keine deutschsprachige Brettspielkritiken bekannt, die diesen Höchstansprüchen an die eigene Qualität wirklich genügen würde. Ich sehe hier einfach eine ziemlich erstaunliche Diskrepanz. Dass Synes Ernst dabei nur eine Idealvorstellung formuliert, ist klar. Aber hey, so schwer kann's für solch profilierte Kritiker doch nicht sein, einen entsprechende Brettspielkritik auch tatsächlich einmal zu verfassen? Klar, Martin Kleins Rezensionen fallen mir auch positiv auf. Natürlich gibt es in unserer Sprache gibt es natürlich viel Lesenswertes. Nur sind das nach meinem Verständnis durch die Reihe eben nicht Kritiken, wie sie Synes Ernst vorschweben.

    Schöne Sacherörterung, MetalPirate .

    Möchte jemand wirklich die Eignung von Looping Louie (als Kinderspiel und darüber hinaus, ihr wisst schon, was ich meine) in der Art einer Literaturkritik besprochen sehen? Oder für Looping Louie als Kulturgut argumentieren? Doch wirklich nicht!

    Doch, klar! Meine ich ganz im Ernst. Es gibt sogar kaum ein Spiel, das sich dazu besser eignen würde. Überleg mal, wie viele Anknüpfungspunkte man da hätte, um im Rahmen einer Kulturkritik den großen Bogen vom Spiel zur Gesellschaft zu spannen. Ich meine, das ist doch schon faszinierend, warum dieses Spiel auch von Erwachsenen so gerne gespielt wird. Dazu könnte man viel schreiben.


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    So, und jetzt noch etwas ganz anderes: Jedes mal, wenn diese Diskussion aufkommt, hört man von den üblichen Verdächtigen (wie eben Synes, aber noch ein paar andere, die sich zum Thema gerne äußern) jede Menge Appelle, bisweilen regelrechte Predigten und auch blumige Sonntagsreden. Nur ist das alles auf diese Art nicht so greifbar, weil zu abstrakt und unverbindlich.


    Darum mal auf den Zahn gefühlt: Wo sind konkrete Beispiele für solche Rezensionen, die diesen selbst formulierten Ansprüchen auch genügen und in einer Liga mit Kritiken aus dem etablierten Kulturbetrieb spielen? Und damit meine ich insbesondere yzemazes Punkt 3, der in der Praxis die höchste Herausforderung stellen sollte, nämlich: Einordnung des Spiels durch Vergleich mit anderen, ähnlichen Titeln, Herausheben von Innovationen und Einzigartigem. Außerdem der Blick über den Tellerrand: »Ich möchte, dass die Spielkritik den Blick für andere Bereiche der Kultur öffnet und mir zeigt, ob und welche thematischen Beziehungen zwischen dem Spiel und Werken aus Literatur, Theater oder Film bestehen


    (Ich darf nochmal betonen, dass ich mir selber auch Spielekritiken wünsche, wie Ernst Synes sie skizziert, wenn auch eher als Ergänzung zum Portfolio dessen, was man sonst noch so serviert bekommt.)

    Ernst Synes' Artikel (Aufruf?) ist natürlich schon ein bisschen der des einzelnen Rufers im Walde. Die Hunde bellen, doch die Karawane zieht weiter. Insofern ist die ganze Debatte eher akademischer Natur.


    Unabhängig davon denke ich, dass es schon eine Nachfrage nach Spielekritiken der Art gibt, wie Synes sie beschreibt. Das Feuilleton der FAZ bedient ja auch nur eine Nische, aber sie hat eben ihre Leserschaft. Das Missverständnis entsteht meiner Einschätzung hierbei bereits alleine dadurch, dass jemand wie Ernst Synes mit dem Begriff der "Kritik" eine ganz andere Qualität verbindet, als derjenige, der auf Amazon einen Dreizeiler schreibt und fünf Sterne vergibt; oder als derjenige, der nach einer oder vielleicht sogar drei Partien ein Rezensionsvideo aufnimmt. Ein Kritiker mit dem Anspruch eines Ernst Synes könnte andererseits vermutlich gut damit leben, würden solche Veröffentlichungen stattdessen mit "Spielvorstellung" betitielt, ganz in Analogie zur Buchvorstellung, wie wir alle sie noch von der Schule kennen. Denn qualitativ läuft es ja tatsächlich in aller Regel auf eben dieses Besprechungsniveau hinaus.

    Ich sehe mich in meiner Idealvorstellung einer Spielekritik vollumfänglich bestärkt. :)


    Es gibt im Artikel des Autors einen Kritikpunkt am Selbstverständnis sehr vieler Rezensenten/Journalisten, den ich in dieser Deutlichkeit bisher nur selten von Seiten eines Brettspieljournalisten zu lesen bekommen habe. Den möchte ich gerne an dieser Stelle nochmals hervorheben und kommentieren:

    Kommt hinzu, dass im Spielebereich das Selbstverständnis weit verbreitet ist, wonach die Branche auf der einen und die Kritiker auf der anderen Seite ein gemeinsames Ziel zu verfolgen hätten – die Förderung des Spielens in der Gesellschaft. Die Nähe, die hier sichtbar wird, ist ein massives Risiko für eine unabhängige Spielkritik.

    Das geht auch mir sehr gegen den Strich. Tatsächlich ist diese Denkweise ja noch viel extremer ausgeprägt, nämlich dahingehend, dass auch wir Spieler uns bitte dem Ziel der Förderung des Spielens in der Gesellschaft zu verschreiben hätten, weil ja Spielen = tolles Kulturgut usw. Das ist meiner Meinung nach eine Denkweise aus der Echokammer par excellence.