Ich meine, aktuell an einem Punkt angekommen zu sein, an dem ich alle bekannten Brettspiel-Mechanismen in ihren Ausprägungen, Variationen und Kombinationen gesehen und gespielt habe. Von Workerplacement über Deckbuildung und Aktionspunkte bis Mehrheiten und viel mehr. Dabei habe ich viele tolle, entspannte, herausfordernde, spannende und lustige Stunden in ebensolchen Spielrunden verbracht. Von einfach über kreativ bis komplex und kompliziert. Trends wie Bagbuildung und die Neuinterpretation bekannter Marken per Würfel sind gekommen und teils auch schon wieder gegangen. Das Smartphone wurde Teil des Spiels, mal als Helfer, mal als Taktgeber.
Dabei schaffen es viele Spiele, durch ihr Regelkonstrukt eine Story zu erzählen. Eine Story, die im Idealfall in jeder neuen Partie immer etwas anders ist, weil sich Rahmenbedingungen und Mitspieler und Spielweisen verändern. Allzu oft bleibt diese Story aber auf der Ebene der Mechanismen hängen, erzählt wenig fantasievoll sondern eher mechanisch. Kein Wunder, entstehen diese Storys doch eher generisch. Wirkliche Überraschungen bleiben aus, da die Entwicklungspotentiale der Story einer Brettspielpartie arg begrenzt sind, weil alle Elemente vorgegeben und vorab bekannt sind.
Gerade deshalb finde ich die Ansätze von TIME Stories und Pandemic Legacy so erfrischend interessant. Ich weiss eben nicht, was alles während einer Spielpartie wird passieren können. Das Spiel überrascht mich und lebt auch von seinen Überraschungen, während das grundlegende Regelkonstrukt, auf denen diese Überraschungen sich entfalten können, möglichst einfach gehalten sind, um einen unkomplizierten Einstieg zu ermöglichen und nicht abzulenken. Schliesslich soll der Spieler nicht auf der Ebene der Grundregeln stecken bleiben. Nachteil dabei ist allerdings, dass der Wiederspielwert entweder arg begrenzt oder schlicht nicht gegeben ist. Diesen Preis muss man anscheinend zahlen, wenn Spiele vor allem von ihrer Story und den zu entdeckenden Überraschungen und Wendungen leben.
Auf einer ganz anderen Seite der Spielmechaniken gibt es das Genre der kreativen Spiele. Spiele, die ihre Mitspieler ins Spielgeschehen einbeziehen und erst durch die Kreativität der Mitspieler leben können. Als ein Beispiel möchte ich "Ein solches Ding" nennen. Durch die zufällige Kombination von Mitspielerkarten entsteht in den Mitspielerköpfen eine Idee von einem Ding. Dabei ist es arg unwahrscheinlich, dass ein solches Ding in Folgepartien erneut auftaucht, dazu ist die Kartenanzahl in ihren Kombinationsmöglichkeiten zu hoch und jeder Mitspieler hat auch einen anderen Denkansatz. Ein Spiel wie "Ein solches Ding" kann man fast unbegrenzt oft spielen, denn die Story entsteht mit Hilfe der Spieler und ist jedesmal überraschend neu. Allerdings braucht es schon eine Spielrunde, die sich darauf einlassen mag und bereit ist, ihren Teil zur Storyentstehung beizutragen.
Wäre dann nicht der nächste Schritt auf der Entwicklungsskala der Brettspiele, dass der vorgegebene Storyansatz von TIME Stories & Co mit der kreativen Einbeziehung der Mitspieler kombiniert wird? Eben so, dass die Mitspieler selbst im Laufe einer Partie Spielelemente entwickeln, die dann Teil des Spiels und der Story werden und auch über eine Partie hinaus leben und gegebenenfalls wieder verdrängt werden könnten? Ein Brettspiel also, dass sich durch die Partien der Mitspieler laufend verändert und nicht durch Vorgaben wie Pandemic Legacy in seiner Entwicklung nach x Partien abgeschlossen ist? Ein Brettspiel, das keine feste Gruppe an Mitspielern braucht, sondern in einer Partie als Story abgeschlossen ist und durch die Entscheidungen dieser Mitspieler sich für die Folgepartie dauerhaft verändert hat. Und was würde passieren, wenn man dann zwei sich ganz unterschiedlich entwickelte Brettspiele kombinieren würde?
Auf einer spielmechanischen Ebene wäre das durch Kartenhüllen mit unterschiedlichen Rückseitentypen möglich. Die Spielrunde kann in ihrer Partie neue Karten im Rahmen eines Spielmechanismus entwickeln, auf eine Blankokarto festhalten und dann in diese Kartenhüllen schieben. Andere Karten könnten so im Laufe einer Partie verdrängt, eventuell sogar dauerhaft vernichtet werden. Am Ende der Partie sind die Karten dann nicht mehr die, die man noch zu Spielbeginn hatte - einige sind neu dazugekommen, andere haben sich bewährt, andere wurden verdrängt oder auch nur modifiziert. Unter dem Arbeitstitel "Parasit" bin ich schon seit einiger Zeit daran, mir in Gedanken die Möglichkeiten dazu auszumalen. "Parasit" deshalb, weil man ebenso als Variante gezielt zwei Kartenpacks zweier Spielrunden gegeneinander antreten lassen soll und daraus dann ein kombiniert neues Spiel entsteht, fernab der Entwicklung innerhalb eines Kartenpacks.
Ein anderer Ansatz unter dem Arbeitstitel "R-Evolution" zeichnet die komplette Entwicklungsgeschichte einzelner Volksstämme mit Beginn der Menschwerdung nach. Wobei selbst das Vokabular und die daraus dann möglichen Spielmechansimen einer Spielpartie (mit Wirkung auf die nachfolgenden Partien) durch die Spieler selbst entwickelt werden müssen. Ist aber alles noch in einer sehr frühen Konzeptstudie. Die grundlegende Idee dahinter ist, den kreativen Ansatz der Mitspieler mit einem vorgegeben Storyansatz sich entwickeln zu lassen, ohne dass man jemals erahnen könnte, was nach x oder xx Partien daraus geworden ist. Die eigentliche Herausforderung sind die Selbstregulierungsmechanismen, dann wenn alles möglich ist, wird auch alles gemacht werden bishin zu einer Karte "Finito: Ich habe hiermit gewonnen und Euch alle unterjocht".
So oder so, die Zukunft des Brettspiels bleibt spannend!
Cu / Ralf