Der Wert der Wiederholung

  • Ich hab mal wieder einen Beitrag als Kolumne verfasst (das Original findet ihr hier: https://boardgamefan.de/kolumne/der-wert-der-wiederholung/). Gerne aber poste ich den Content auch hier :)


    Wie häufig denkst Du über die Wiederspielbarkeit von Spielen nach? Ich tatsächlich relativ häufig. Vor allem, wenn ich darüber nachdenke, ob ich mir ein Spiel überhaupt zulegen soll oder nicht. Denn mit der Erfahrung auf dem Brettspielmarkt, den eigenen Vorlieben, Abneigungen und Interessen sowie der subjektiven Einordnung von Reviews und Influencern kommt irgendwann einmal der Punkt, an dem „logische“ Maßstäbe für eine Kaufbewertung herhalten müssen.


    Die Wiederspielbarkeit teilt sich dabei eigentlich in zwei Unterbereiche auf: Einerseits die schlichte Varianz eines Spiels. Habe ich nach wenigen Partien schon alles gesehen, sodass es gar keinen Sinn mehr macht das Spiel nochmal zu spielen? Dem gegenüber steht der schlichte Wiederspielreiz – wie interessant ist das Spiel und wie oft möchte ich es erneut spielen, ganz gleich welcher Content mir präsentiert wird?


    Ein für mich extrem interessantes und spaßiges Spiel, das aber pro Szenario wenig Varianz bietet, ist Villen des Wahnsinns 2. Kenne ich die Auflösung eines Szenarios, wird es sich bei Wiederholung kaum davon unterscheiden. In Wirklichkeit gibt es mit steigender Anzahl an Erweiterungen in meiner Sammlung zwar eine steigende Anzahl unterschiedlicher Aufbauten der einzelnen Szenarien inkl. verwendeter Map-Tiles, Gegenstände und Monster. Die Hintergrundgeschichte – der Plott quasi – bleibt dabei aber unverändert. Dieses Spiel bietet daher keine hohe Varianz und auch vergleichsweise wenig Content. Wobei mir dabei gerade einfällt, dass ich schon immer einen Fall wiederholen wollte, bei dem man Täter identifizieren muss – und diesen auf Varianz zu testen. Ich bin mal kurz…


    – Zwei Stunden später –


    Ein gegenteiliges Beispiel ist Tainted Grail. Hier gibt es Content für Tage an Spielzeit. Wahrscheinlich sogar für Wochen. Jedoch ist das Spielsystem für mich so repetitiv und uninteressant, dass ich keinen Reiz verspüre das Spiel überhaupt aufzubauen – wobei ich es dafür auch erst nochmal kaufen müsste… Beides sind also Fälle, bei denen ich die Wiederspielbarkeit kritisch bewerten würde, jedoch aus unterschiedlichen Richtungen.

    Doch wiegt dieses Kriterium wirklich so schwer? Definiert sich ein gutes Spiel nicht viel mehr über Qualität statt Quantität? Ist es nötig den Kaufpreis eines Spiels durch die Anzahl spaßiger Minuten zu teilen um über diesen Quotienten meine Ausgaben zu rechtferitgen? Und was kostet Spaß eigentlich? Oder besser gefragt: Was darf Spaß eigentlich kosten?

    Die gute Nachricht ist, dass die Antwort auf diese Frage eine sehr subjektive ist. Und diese Erfahrung muss jeder für sich selbst machen.


    Auftritt: Singleplayer-Kampagne von Call of Duty – Modern Warfare 1-3. Für alle zu spät geborenen: Ich spreche von den Goldstücken aus 2007-2011. Teil 3 war monatelang vorbestellt, für saftige 60 €. An einem Donnerstag wurde es geliefert, nach der Arbeit direkt installiert und sofort von vorn bis hinten durchgespielt. Nach objektiven Kriterien sollte das eine Nullnummer gewesen sein: 16 Cent pro Minute für ein einmaliges Erlebnis?!

    Doch obwohl ich mehrere hundert Stunden in Spielen wie Skyrim, World of Warcraft, Battlefield 3 oder League of Legends verbracht habe, bin ich noch heute der Überzeugung, dass dies die spannendsten 6 Stunden waren, die ich je vorm Computer verbracht habe. Ich glaube, ich habe während der gesamten Zeit nicht einmal geblinzelt. Und genau das habe ich in den folgenden Jahren zig fach wiederholt – trotz immer bleiben Content.


    Und wie ich es genossen habe! Gab es irgendeine Form von Varianz? Nein, null, niente, nada. Wurden die Aufgaben kniffliger? Ebenfalls nicht. Alternative Enden oder Routen? Fehlanzeige. Selbst einen freien Willen gab es quasi nicht, da das Spiel so viele Events „durchgescriptet“ hat, dass man davon gar nicht abweichen könnte, selbst wenn man wollte. Aber man will eben auch nicht. Weil es einfach Spaß macht. Ich habe die Kampagnen der Modern Warfare-Trilogie mit meinen „remarkable fruit-killing skills“ etliche Male durchgespielt, bin mit einem „This is for Soap!“ aus einem Bulli gesprungen und habe noch heute ein „Easy, lad…“ im Ohr, wenn ein Scharfschütze in einem Film durch sein Zielfernrohr schaut.


    Ähnlich verhält es sich bei Filmen: Jurassic Park (1) und Independence Day (1) zählen mit wahrscheinlich dreistelligen Vorstellungen wohl zu meinen meist gesehenen Filmen. Ich kann sie auswendig mitsprechen, habe damals sogar einzelne Szenen per Micro aufgenommen, bearbeitet und die Windows-Standardhinweise damit versehen. Wenn sich meine Mutter an unseren PC setzte, wurde sie mit einem „Conny, sie sind heute morgen schon verdammt früh auf…“ empfangen und jede Fehlermeldung kommentierte der Rechner mit einem „Bullshiiit – seit wann kann man Sch*** so hoch stapeln?!“ (kleines Ratespiel). Diese Files (auf Diskette) waren der Renner auf dem Schulhof…


    Warum erzähle ich das? Weil es themenfremde Beispiele dafür sind, dass weder die Dauer noch die Varianz wichtig für die Begeisterung sind, sondern schlicht die Qualität. Ich habe eine hohe zweistellige Anzahl an Partien in den ersten drei Szenarien von Fireteam Zero verbracht, dutzende Male das „Tutorial-Szenario“ von Mage Knight gespielt oder Azathoth in Eldrich Horror bekämpft, ohne dass diese Spiele etwas von ihrer Faszination eingebüßt hätten.


    Überhaupt bringt mich Mage Knight auf einen weiteren Gedanken. Hat man das Spiel erst „wirklich“ gespielt, wenn man einen Großteil seiner Varianz ausgeschöpft hat? Und wie sieht es mit Voidfall aus – das man gemessen an seiner Varianz quasi als „Mage Knight in Space“ bezeichnen könnte? „Lohnt“ sich so ein Spiel auch, wenn man als Solo-Spieler quasi nur 1/3 seines Umfangs spielt?


    Sind wir mal ehrlich: In unseren Expertenspiel-Kreisen… Wie oft müsste ein Spiel gespielt werden, bis mangelnde Varianz tatsächlich zum Problem werden könnte – und wie oft wird es tatsächlich gespielt? Wird eine schlechte Wiederspielbarkeit nicht durch Alternativen im eigenen Regal schon mehr als wett gemacht? Ist es nicht viel wichtiger, dass ein Spiel Spaß macht, ohne direkt einen Gedanken an dessen Vergänglichkeit zu verschwenden?


    Und „What the hell kind of name is Soap“ eigentlich?

  • Vielen Dank für den ausführlichen Gedanken. Ich möchte einmal versuchen, meine Sicht auf deine aufgeworfenen Fragen zu schildern:


    Hat man das Spiel erst „wirklich“ gespielt, wenn man einen Großteil seiner Varianz ausgeschöpft hat?

    Da man es niemandem schuldig ist, ein Spiel "richtig" gespielt zu haben, ist eine Antwort hier diffizil. Ich persönlich habe für mich ein Spiel "richtig" gespielt, wenn ich das Spielgefühl erleben durfte. Beispiel "Food Chain Magnate": Davon habe ich 5 Partien auf dem Buckel, das Spiel ist also mitnichten ausgeschöpft. Aber ich hatte diese eine Partie, wo ich mir feinsäuberlich meine Kunden für meine Produkte herangezüchtet habe, und dann kommt die Mitspielerin mit ihrem Discount Manager, klaut mir alle Profite und bringt mich förmlich zur Weißglut. Aber statt des Table-Flips muss ich mir eingestehen, dass ich das hätte vorhersehen müssen und überlege nach der Partie, wie ich meine Nische das nächste Mal besser verteidigen kann. Das Spiel hat noch ganz viel für mich zu bieten, aber ich habe die erbarmungslose Natur und hohe Interaktivität kennen und schätzen gelernt, das Spiel also "richtig" gespielt.

    Meiner Ansicht nach hat das also nichts mit Varianz und Wiederspielwert zu tun.


    Weil es themenfremde Beispiele dafür sind, dass weder die Dauer noch die Varianz wichtig für die Begeisterung sind, sondern schlicht die Qualität. […] Wie oft müsste ein Spiel gespielt werden, bis mangelnde Varianz tatsächlich zum Problem werden könnte – und wie oft wird es tatsächlich gespielt?

    Da stimme ich dir zu, dass es am Ende des Tages an der Qualität hängt, aber manche Spiele speisen ihre Qualität aus der Varianz. "Spirit Island" und "Terra Mystica" sind für mich hier zwei interessante Beispiele. Spirit Island lebt für mich von der Dynamik im Zusammenspiel unterschiedlicher Geister (Varianz führt also zu Qualität), während ich an Terra Mystica den Konflikt aus Nähe und Weite zueinander am meisten schätze. Hier ist die Qualität also für mich schon von Anfang an gegeben und die Varianz durch die Völker ist ein Bonus, den ich aber noch kaum ausgeschöpft habe (trotz ca. 15 Partien).


    Wird eine schlechte Wiederspielbarkeit nicht durch Alternativen im eigenen Regal schon mehr als wett gemacht?

    Ja, würde ich so unterschreiben. Aber -um den Bogen zur vorherigen Frage zu schlagen- man könnte hier "schlechte Wiederspielbarkeit" auch durch "mittelmässige Qualität" ersetzen. Ich habe den Eindruck, dass jede Sammlung ein gewisses Mittelmaß verträgt und in der Regel auch beinhaltet. Das kann an Nostalgie, Haptik, Thema oder was auch immer liegen. Bei mir sind das zum Beispiel "K2" oder "Yukon Airways". Hin und wieder spiele ich sie gern, aber als Dauerbrenner sind sie eben doch nicht genug. Speziell K2 würde mit der Broadpeak-Erweiterung ja Varianz bieten, aber das reizt mich überhaupt nicht. Alle Jubeljahre freue ich mich, den K2 zu besteigen, und dann ist es auch wieder gut.


    Ist es nicht viel wichtiger, dass ein Spiel Spaß macht, ohne direkt einen Gedanken an dessen Vergänglichkeit zu verschwenden?

    Jein. Alle Legacy-Spiele (und Pandemic Legacy Season 1 würde ich immer noch als das beste Spielerlebnis beschreiben, das ich je hatte… Nicht das beste Spiel, aber das beste Spielerlebnis) schöpfen ihre Qualität genau aus der Vergänglichkeit. Für "konventionelle" Spiele würde ich jedoch ebenfalls differenzieren. Kleinere Kartenspiele wie "Scout" oder "Fantastische Reiche" tragen wunderbar über eine Zeit und verlieren dann ihren Reiz. Das hat aber die entspannten Absacker-Momente davor nicht schlechter gemacht. Hier bin ich bei dir. Bei Euro-Games mit gehobenem Anspruch, also einer signifikanten Einstiegshürde, erwarte ich hingegen, dass mich das Spiel mit ausreichend Entdeckungspotenzial für die investierte "Arbeit" entschädigt. Es darf also nicht zu vergänglich sein.

    Mit Entdeckungspotenzial meine ich auch nicht zwingend klassische Varianz im Sinne von zig variable Player Powers à la "Auf den Spuren von Marco Polo". Bei "Agricola" muss man eigentlich immer das gleiche machen, da man ja immer alles machen muss, um die Minuspunkte zu vermeiden. Dennoch habe ich -für einige hier unvorstellbar- noch kein einziges Kartendeck gekauft. Die Dynamik der Mangelverwaltung bei gleichzeitigem Vorhandensein von Anhäufungsfeldern erfordert meines Erachtens eine relativ sensible Wahrnehmung der Dynamik am Tisch, um die richtigen Dinge mit minimalem Aufwand zur rechten Zeit zu erledigen. Das zu schaffen, ist eine Herausforderung, der ich mich jedes Mal gerne stelle, ohne dass es dafür Varianz im klassischen Sinne braucht.

  • Ich denke, dass man hier ein wenig unterscheiden muss zwischen den eher "thematischen" Spielen (Ameritrash) und den eher "strategischen" Spielen (Euros). Je mehr Wert auf Story gelegt wird, umso wichtiger wird deren Qualität für das Gesamterlebnis, bis hin zu dem Punkt, wo die Güte der Story alleine schon das endlose Wiedererleben (= Wiederspielen) rechtfertigt.

    Im Euro-Bereich wirst du das so nicht erleben. Die definieren sich auch (nicht nur, aber doch ganz wesentlich) durch das Lösen einer Problemstellung, und wenn diese in gewissem Rahmen variabel ist, dann wird die Aufgabe dadurch tendenziell interessanter. Und selbst wenn man das Spiel nur ein einziges Mal spielt, dann verhindert die Variabilität der Aufgabenstellung immer noch zuverlässig die Existenz einer einzigen optimalen Lösung, die man z.B. im Internet finden könnte.

    Varianz, insbesondere Setup-Varianz, stellt dann sicher, dass alle Mitspieler immer bei null anfangen, anders als z.B. bei Schach, wo ab einem gewissen Niveau meistens derjenige gewinnt, der am intensivsten Eröffnungen und Stellungen vergangener Partien auswendig gelernt hat -- etwas, das für mich so ziemlich das Gegenteil von Spaß am Spielen ist.

  • Varianz, insbesondere Setup-Varianz, stellt dann sicher, dass alle Mitspieler immer bei null anfangen, anders als z.B. bei Schach, wo ab einem gewissen Niveau meistens derjenige gewinnt, der am intensivsten Eröffnungen und Stellungen vergangener Partien auswendig gelernt hat -- etwas, das für mich so ziemlich das Gegenteil von Spaß am Spielen ist.

    Alternativ oder zusätzlich hilft auch ein anderer Faktor: Verdeckte Informationen.

  • Ich weiß noch bei dem ersten Villen des Wahnsinns Teil damals war das Geschrei groß, dass man da ja nach 5 Partien alles gesehen hat und es nicht nochmal spielen kann obwohl man als Bewahrer jedes Szenario beliebig oft spielen kann.


    Und das lustige daran ist ja, dass die Leute schreien "hat mir zu wenig Varianz, ist sein Geld nicht wert" und dann ihre Spiele mit ganz viel Varianz nur einmal spielen. Jedes neue Kickstarterspiel muss ja so ultra viel Varianz haben, so dass dieses eine Spiel für den Rest des Lebens reicht aber bis das da ist gibt's schon wieder die nächsten 3 Spiele.