Liebe Raggamuffins,
im Laufe der Jahre habe ich in diesem schönen Forum immer wieder Kritik an "Punktejagd-Spielen" gelesen. Punktesalat ist eine verwandte Vokabel. Dabei gleich vorweg, manchmal wird der Begriff auch neutral oder gar positiv besetzt verwendet - diese Fälle meine ich nicht. Denn in der Mehrheit hat er eine negative Konnotation, die ein bisschen in die Richtung "seelenlos, trocken, verkopft, themenfrei/beliebig" geht.
Spiele, bei denen es im Endeffekt also darum geht, möglichst viele Punkte zu sammeln. Im Mehrspieler hat man gewonnen, wenn man mehr als seine Mitspieler hat, solo versucht man seinen eigenen Highscore zu schlagen.
Ganz zu Beginn dachte ich noch, das Ziel, Punkte zu erspielen, ist gegenüber einem "echten" Ziel, das eine konkrete Aufgabe darstellt, minderwertig. Ich wollte Story, Geschehen, Phantasie, Immersion. Was klingt da naheliegender - ein Spiel, bei dem es prosaisch um Punkte geht oder eine Story, die man nachlebt und bei der man unterschiedliche Aufgaben schaffen soll?
Inzwischen bin ich aber sehr davon abgekommen, dass eine Siegbedingung, die mit Punkten verknüpft ist, ein Spiel in irgendeiner Weise negativ qualifiziert. Oder "viel Story" automatisch ein Pluspunkt. Im Gegenteil. Spiele, deren Belohnung bzw. Siegbedingung Punkte sind, lassen mir, so habe ich zumindest das Gefühl, eine größere Freiheit als feste Ziele. Bei Caverna und Agricola geht es nicht darum, der beste Tierzüchter zu sein, die größte Höhle zu haben, oder das meiste Brot zu backen. Es gibt millionen (aus Gründen der Begeisterung slightly übertrieben) Wege zum Ziel, das selbst so unaufregend klingt: "möglichst viele Punkte machen". Bei Imperial Settlers entscheide ich, welche Gebäude ich baue, welche ich opfere, welche Strategie ich fahre, was ich aus den mir gegebenen Möglichkeiten mache, und auch hier ist das vorgegebene Ziel einfach nur: möglichst viele Punkte. Trotzdem ist keine Partie wie die andere und jede fühlt sich enorm belohnend an.
Der Wiederspielwert ist, so habe ich das Gefühl, in Punktesalatspielen in den meisten Fällen höher als bei Spielen mit klaren Zielen. Ich glaube nicht, dass ich persönlich Mice & Mystics nach dem Durchspielen jemals wieder anfassen werde. Oder Legacy of Dragonholt. Oder die Legenden von Andor. Warum auch? Es gibt ja kaum noch etwas zu entdecken, wenn das Spiel "gelöst" wurde. Wenn ich aber mein Spieleregal konsultiere und mir überlege, mit welchen von den dort ansässigen Schlawinern ich am meisten Zeit verbracht habe und/oder davon ausgehe, noch jahrelang viel Zeit zu verbringen, wer sind das dann? Caverna (natürlich), Agricola (selbstverständlich), Flügelschlag (<3 wusstet ihr schon, dass da Vögelchen drin sind?), Blackout Hong Kong, Healthy Heart Hospital, Die Kolonisten, Nations (Brett- und Würfelspiel), Roll Player, Gaia Project, Cottage Garden, Dinosaur Island, Cooper Island, Terraforming Mars, Imperial Settlers, Feudum, usw. usf. NATÜRLICH gibt es auch Ausnahmen. UltraQuest, Robinson Crusoe, usw. Zu denen weiter unten ausführlicher. Was werde ich nach dem Durchspielen eher nicht mehr sehr oft anfassen? Legacy of Dragonholt, das Herr der Ringe LCG, Dungeon Degenerates, usw.
Durch meinen eigenen Weg und das Entwickeln eigener Strategien, habe ich, was mich überraschte, stets ein deutlicheres Gefühl der Immersion entwickelt, als beim Nachspielen von Geschichten. Das ist etwas, was ich erst lernen bzw. erfahren musste. Ein Spiel, das mir "Storyschnippsel" oder auch nur sparsame, aber reizvolle Anreize hinwirft (meist über das Material oder knappen Flufftext), auf Basis derer beim Spielen dann mein eigenes Erleben geschieht; DAS ist, was mich fesselt, begeistert und wirklich im Geschehen aufgehen lässt. Bis jetzt waren dies überwiegend, aber nicht nur, Punktesalatspiele oder wenigstens Punktejagdspiele. Dabei ist die Jagd nach dem Highscore nicht das Wichtigste am Spieltisch, sondern der Weg dorthin. Die Regeln, die durch diverse Aktionen den Rahmen für das Mögliche und für das Geschehen setzen und die bei tollen Spielen meist auch noch thematisch sinnig sind, versuche ich prinzipiell schon optimal zu nutzen; aber es gibt Grenzen, bei denen mir das, was im Spiel passiert, wichtiger ist. Mag sein, dass ich einen krassen Highscore heimfahren würde, wenn ich meine Zwerge mal hungern lassen und dafür ein paar Extraaktionen rausholen würde. Aber so wahr ich hier am Bildschirm klebe hat noch KEIN Zwerg im Hause Pikmin eine Bettelmarke ziehen müssen. Da sind mir die Punkte weniger wichtig, als meine erzählerisch wahrgenommene Aufgabe. Und wenn bei Flügelschlag ein Vogel einfach so abartig süß aussieht, aber etwas weniger Vorteile als der Fischreiher bringt, dann zieht halt erstmal der Süße ein, mir doch egal. Soll heißen; das Erreichen der Punkte bietet einen tollen mechanischen Rahmen, ich gehe aber nicht über Leichen für meinen Highscore. Ich freue mich, wenn ich einen hohen erreiche, gräme mich aber auch nicht über einen niedrigen und manchmal war die Partie an sich so schön, dass die erreichte Punktezahl mir echt schnuppe ist. Währenddessen zelebriere ich meine Freiheit, zu tun und zu lassen was ich will, da das Ziel eben nicht fest steht.
Natürlich gibt es Ausnahmetitel, die mich komplett eintauchen lassen, bei denen ein Ziel klar vorherrscht und es nicht unbedingt um Punkte geht. Ihnen allen ist aber gemein, dass sie sich bei der Narration vornehm zurückhalten. Und meistens gibt es auch DORT noch die Option, Punkte zu zählen.
Kommen wir zu ein paar Beispielen von Ausnahmen und Hybriden:
Mir (mehr oder minder bekannte) Ausnahmen
- UltraQuest
Bei Ultraquest ist das Ziel klar; erhaltet 100 Ehrepunkte oder einen legendären Schatz. Auch ist es sehr storylastig. Es gehört jedoch zu den Spielen, die keine vorgefertige Story haben, sondern sich diese durch einzelne kurze Erlebnisse jedes Mal neu von selbst entspinnt. Wenn das Schnattercorps gesiegt hat, weiß ich zwar nicht, ob ich so schnell die nächste Gruppe ins Rennen schicke, aber mittel- bis langfristig bestimmt. Dazu gibt es noch zu viel zu entdecken und auch neue Heldenarten zu probieren.
- Gloomhaven
Ich kenne Gloomi nicht gut, aber soweit ich weiß, gibt es hier auch viele, viele einzelne klare Ziele Ich könnte mir vorstellen, dass auch Gloomhaven einen hohen Wiederspielwert hat, aber eher, weil der Ziele so viele sind. Ob es Spaß macht, dasselbe Szenarion mehrfach zu spielen? Vielleicht, wenn wenigstens die persönlichen Ziele deutlich divergieren? Keine Ahnung.
- 7th Continent
Ihm wird ja gerade häufig vorgeworfen, dass man es "lösen" kann. Es gehört daher eigentlich schon zu den Spielen, denen ich negativ ankreide, dass der Wiederspielwert nicht so hoch ist. Es bietet ja beim erneuten Abgehen des Weges, soweit ich weiß, auch nichts neues. Aber auch hier gibt es so viel Quests, zumindest wenn man all-in geht, dass ich mir vorstellen könnte, es häufig zu spielen. Auch hier macht es, wie bei Gloomhaven, die Fülle an Aufgaben - sind diese aber erstmal geschafft, besteht wohl nicht so der Bedarf, DIESELBEN nochmal zu spielen.
Hybriden:
- Imperial Settlers
Im Mehrspieler Punktejagd, solo muss man, um seine Punkte zählen zu DÜRFEN erstmal eine kleine Hürde nehmen, die aber fast immer schaffbar ist, nämlich mehr Völkergebäude in der Auslage zu haben als der simulierte Gegner Karten. Das ist aber vernachlässigbar weil eh fast immer geschafft.
- Robinson Crusoe
Ich war vom Erreichen des Zieles meistens so euphorisch gestimmt, dass das als Belohnung gereicht hat und ich die Punkte gar nicht überprüft bzw. das sogar vergessen hatte. Das finde ich auch eine nette Kombination; ein Ziel zu haben und ZUSÄTZLICH die Option zu haben, die Performance zu checken. Sollte ich irgendwann mal so unfassbar gut geworden sein, dass ich die Szenarien in jeder Besetzung zuverlässig schaffe, kann ich immer noch versuchen, sie noch BESSER zu schaffen und meinen Fokus des Szenarienziels darum erweitern, auch den Weg dahin noch effizienter zu gestalten. Durch die Ereignisse wird außerdem so viel Erleben und Exploren hereingetragen, dass ich noch kein Szenario satt geworden bin. Kann mir sehr gut vorstellen, dass das auch noch lange so bleibt und dann ist ja noch die Erweiterung da und hach...
Im Mehrspieler ist es eine Punktejagd, solo zwar irgendwie auch, aber es gibt ein klares Ziel, was ich ausnahmsweise mal komplett fantastisch finde und was mir auch noch nicht IM ANSATZ über geworden ist. Dazu bietet das Spiel zu viel und jede Partie ist zu anders. Zusätzlich werden auch hier Punkte gezählt, sind zum Gewinnen an sich aber nicht nötig. Ich habe schon gemerkt, dass ich, als die Gewinnquote so langsam stieg, auch mal einer "bringt viele Punkte aber nix für die engine"-Karte den Vorzug gegeben habe. Das gab es vorher noch nie! So verschieben sich die Präferenzen mit der Zeit und in diesem Titel finde ich es extrem gut gelungen.
Negativ-Ausnahmen
Dass auch mir, die inzwischen einen wirklich favorablen Blick auf reine Punktejagd-Spiele geworfen hat, selbige natürlich nicht für ein faszinierendes Spielerlebnis AUSREICHT, sondern es manchmal trotzdem einfach nicht funkt, zeigt, dass natürlich mehr dazu gehört. Ich will hier Punktesalat-/jagdspiele nicht als das nonplusultra darstellen, die immer fantastisch sind. Manchmal gibt es Titel, bei denen ich die Einwände gegen sowas komplett nachvollziehen kann. Ich übertrage es inzwischen nur mehr nicht auf das Prinzip des Punkteziels, sondern auf den konkreten Titel. Beispiele:
- Newton
Das Spiel "versagt" für mein Gefühl thematisch. Ja, ich reise. Es fühlt sich allerdings überhaupt nicht so an. Ja, ich fülle ein Buchregal. Noch nie bin ich dabei so unbegeistert gewesen. Newton ist für mich eine rein mechanische Knobelaufgabe, die zusätzlichem Charme, der über eine ansprechende Optik oder Fluff möglich gewesen wäre, von vornherein die Tür zeigt. "Schönheit nicht erwünscht". Obwohl ich einzelne Grafiken ganz toll finde, ist der Gesamteindruck einfach mau. Dabei - dieses Kartondesign! Dieses THEMA! Ein wissenschaftlicher Reisender, der gelehrte Schriften sammelt, Azubis herumschickt - WAS HÄTTE DAS TOLLES WERDEN KÖNNEN! Ja, unbestritten, man hat unglaublich viele Möglichkeiten zu punkten. Dass mir das nicht ausreicht, wenn ich die Möglichkeiten an sich uninspirierend finde, habe ich bei Newton gelernt. Harte Schule. Auf keinen Fall stelle ich in Abrede, dass es ein extrem unterhaltsames Spiel sein kann, mit toller verzahnter Mechanik, es ist nur wirklich nicht für mich. (Sag ich jetzt so, ich möchte es aber noch ein paar Mal versuchen)
Also, meine Theorie ist: Spiele, die ein klares Ziel vorgeben, werden gespielt und sind irgendwann mal geschafft, gelöst, durch, fertig. Punktesalatspiele enden nie und bieten immer Anreiz zur nächsten Partie. Das sind aber nur Gewichtungen. Dass es in jeder Richtung auch Gegenbeispiele gibt, ist klar. Aber in der Tendenz ist das nicht so verkehrt, oder? Auch hier im Forum nehme ich als Spiele, die immer wieder, auch über Jahre, und mit nicht nachlassender Begeisterung gespielt werden, eher Punktejagdspiele war, wohingegen andere, die zeitweise total begeistern, weil Story/Szenarien so toll sind, dann eher irgendwann auch wieder abebben. EHER. Nicht nur.
P.S.: Dass manche Punktejagdspiele möglicherweise doch ein theoretisches "Ende", nämlich eine maximal erreichbare Punktezahl haben, bestreite ich überhaupt nicht. Ich halte es nur für unwahrscheinlich bis zur Grenze der Ausgeschlossenheit, dass die für mich persönlich jemals relevant wird, weil ich sie eh nicht erreiche, und wenn doch, dann wäre es Zufall und ich wüsste nicht, dass es "besser" nicht ginge. Und selbst wenn, würde ich bei den mir bekannten Titeln nach wie vor bei jeder einzelnen, einzigartigen Partie Spaß haben, weil einfach das Spielen an sich so toll ist und man sich ja immer noch selbst unterschiedliche Ziele stecken kann. Diesmal die meisten Punkte über Tierzucht, diesmal weniger zerstören und dafür voll auf Nahrung gehen, diesmal - usw.