Wenn man eine längere Abhandlung über ein Spiel schreibt, macht man sich besonders angreifbar, wenn man es entweder verdammt oder aber in den Himmel lobt. Sowas provoziert Gegenmeinungen, erst recht, wenn man den Titel eines etablierten Autors negativ beurteilt oder aber einen Außerseiter überschwänglich lobt. Letzteres möchte in hier riskieren, nämlich etwas Werbung für tollen Außenseitertitel, der seit Essen mehrmals zuhause auf den Tisch kam. Der Threadtitel sagt's schon: es geht um "Die vergessene Welt" von Ryan Laukat, zur Messe in Essen zeitgleich erscheinen in englisch (Red Raven), französisch (Iello) und deutsch (Schwerkraft Verlag). Disclaimer vorweg: ich habe weder mit Verlag noch Autor etwas zu tun...
"Die vergessene Welt" ist Worker Placement vermischt mit Würfeln und Kämpfen. Klingt schon mal ungewöhnlich und wer an eine Vermischung von Eurogame und Kriegsspielen amerikanischer Tradition denkt, ist irgendwie auf der richtigen Spur. Aber auch nur "irgendwie", denn Kämpfe und Würfeleinsatz sind komplett anders implementiert als man bei der Erwähnung dieser Begriffe zunächst mal denkt. In der Summe ist es dann deutlich eher auf der Euro-Seite zu finden, aber eben mit einem wohltuend-erfrischenden Nicht-Euro-Einfluss, der das Ganze aus der Masse der Neuheiten positiv heraushebt. Ich nehme es vorweg: "Die vergessene Welt" ist für mich und meine Frau das (bisher) beste Spiel des aktuellen Jahrgangs 2014. Warum das? Interesse geweckt? Schön. Dann bitte weiterlesen...
Um den Gedanken wieder aufzugreifen (und die Leser, die ich auf den falschen Fährte geschickt habe, wieder ein bisschen einzufangen): Woran denkt man bei Würfeln und Kämpfen? Vermutlich dieses: Die Spieler kämpfen gegeneinander um die Vorherrschaft und mit Würfeln wird bei den Schlachten entschieden, wer den Kampf gewinnen. Solche Spiele gibt es wie Sand am Meer. Aber sowas ist "Die vergessene Welt" nicht. Für meine Liebste und mich sind diese Kriegsspiele auch allesamt nichts. Wir kämpfen nicht gegeneinander. Kann man trotzdem ein militärbasiertes Spiel entwickeln, das mit zwei Spielern funktioniert und sogar friedliebenden Frauen gefällt? Ja, man kann, und zwar überraschend einfach: man kämpft nicht gegeneinander, sondern gegen eine dritte Partei, im Falle von "Die vergessene Welt" eine Ansammlung von Monstern, im Spiel "Titanen" genannt. Und gewürfelt wird nicht darum, wer den Kampf gewinnt, sondern wieviel eigene Infrastruktur (Gebäude) bei dem Kampf kaputt geht und später durch Arbeitereinsatz repariert werden müssen. Kriegsspieler mögen vielleicht denken "fad und langweilig", aber glaubt mir, es funktioniert. Das Spiel ist defintiv kein Multiplayer-Solitärspiel. Interaktion existiert auch jenseits von direkten Angriffen auf den Mitspieler.
Thema des Spiels ist eine Fantasy-Welt, in der fünf Stämme siedeln, die von umherwandernden Monstern, den besagten Titanen, terrorisiert werden. Doch es bilden sich Stadtstaaten, die langsam immer stärker werden, so dass sie es mit den Monstern aufnehmen können. Jeder Spieler lenkt die Geschicke eines solchen Stadtstaates und hat die Aufgabe, bei den fünf Stämmen an Reputation zu gewinnen, indem er einerseits prestigeträchtige Gebäude/Infrastruktur errichtet und andererseits die oben angesprochenen Titanen besiegt. Gebäude- wie auch Titanenkarten zeigen jeweils 1-3 farbige Banner; diese Banner gibt es in den fünf Farben der fünf Stämme. Durch Sammeln der entsprechenden Karten dokumentieren wir den gewonnen Einfluss bei den Stämmen. Am Spielende wird für jeden der fünf Stämme abgerechnet: 1/2/3/4/5/6+ entsprechende Banner geben 1/2/4/6/8/11 Siegpunkte. Fünf solche Zahlen in der Tabelle nachschlagen, aufaddieren, Bonuspunkte von manchen (wenigen!) Gebäudekarten dazu und fertig. Gefällt mir besser als so mancher Euro-typsiche "victory point salad", die dann zu unfreiwilligen Kopfrechenübungen im dreistelligen Zahlenbereich werden.
Um Titan besiegen zu können, müssen wir als Stadtstaat Militär und Infrastruktur aufbauen. Die Basis dafür ist Worker Placement. Jeder Spieler startet mit drei Arbeitern der "Wertigkeit" 1, 2 und 3. Im Laufe des Spiels lassen sich ein 4er und ein 5er Arbeiter anwerben. Wenn ein Arbeiter-Einsetz-Feld bereits besetzt ist und man es nochmal nutzen möchte, dann geht dies nur durch einen Arbeiter mit höherer Wertigkeit. Ausnahme Bauen und Rekrutieren: da kostet es ein Geld mehr, wenn man mit einer anderen Wertigkeit drauf will als bisher vorhanden. Was sich zunächst ziemlich willkürlich anhört, funktioniert erstaunlich gut. Zusätzliche Arbeiter kann man frühestens ab Runde 4 von 6 nutzen, d.h. maximal drei zusätzliche Aktionen pro Arbeiter, netto maximal zwei nach Abzug der Anwerbeaktion selbst, und der tatsächliche Nutzen weiterer Arbeiter liegt eben auch im Blockadepotential bzw. der exklusiven Nutzbarkeit zum Rekrutieren/Bauen ohne Zusatzkosten für den Startspieler. Beim Bauen/Rekrutieren ist durch die Regelung "zusätzliche Zahl kostet" dafür gesorgt, dass man automatisch höhere Kosten hat, wenn man sie selbst zweimal nutzen will (und es dabei gleichzeitig den Gegnern einfacher macht, das Feld ohne Kosten zu nutzen). Die Implementierung des Worker Placement Mechanismus zeigt exemplarisch eine Reife von "Die vergessene Welt", wie man sie bei Kickstarter-Spielen eher selten findet. Es gibt viele Details, wo man nach ein paar Spielen anerkennend bemerkt: "ha, stimmt, da hat sich der Autor etwas dabei gedacht!"
Zum Angriff auf Titanen braucht man Armeen. Deren Einsatzkosten (Sold) steigen mit jeder Nutzung an, aber wenn die Kosten zu hoch werden, existiert Abhilfe: man rekrutiert eine neue Armee, mustert die alte aus, und jetzt das Besondere: die alte Armee gibt gewisse Fähigkeiten an die neue Armee weiter. Dazu wird die Karte umgedreht und unter die neue Armeekarte geschoben, so dass die weitergegebene Fähigkeit unten herausschaut. Dieser Prozess ist wiederholbar und nur in der Summe von aktuellen Fähigkeiten und weitergegebenen Fähigkeiten der Vorgängerarmeen bekommt man richtig starke Einheiten. Die Titanen gibt es in Stufe 1, 2 und 3. Die Zahl entspricht der Anzahl der Banner. Außerdem wird anschießend nach dem Kampf (den man immer "gewinnt", wenn die eigenen Armeen hinreichend stark sind) je nach Titanenstufe mit 1-3 Würfeln gewürfelt, welcher Schaden an der eigenen Infrastruktur entstanden ist. Dieser Aspekt der Modellierung von "Kollateralschäden" ist ungewohnt in der Spielewelt, aber es passt gut. Auf der einen Seite will man das Monster platt machen, bevor es ein Mitspieler macht. Aber andererseits man muss gut überlegen, wann man sich an einen Kampf heranwagt. Nicht dass dabei 1-2 Nahrungquellen Schaden nehmen und einem nachher die Nahrung fehlt, um die eigenen Arbeiter zu ernähren... Das Ganze hat einen Aspekt von Risikomanagement. Jedenfalls für Optimierer. Aus-dem-Bauch-Spieler würden es vielleicht eher als "push your luck" bezeichnen. Man kann die Kämpfe zwar nie verlieren, sobald man die geforderte Stärke hat, aber man kann sich dabei sehr wohl ziemlich böse ins Knie schießen.
Insgesamt ist "Die vergessene Welt" ein absolutes Highlight und ich bin durchaus etwas überrascht, dass man zwar einige sehr positive Bewertungen und Besprechungen findet, u.a. auf BGG, aber die Spielezeitschriften wie z.B. die Fairplay mit ihrer Essen-Rangliste hier nicht ihren Auftrag erfüllt haben, die Spieleperlen jenseits der großen Verlage zu finden.
Plus:
* Das größte Plus ist auf jeden Fall der hohe Grad an Immersion. Man fühlt sich wirklich als Chef eines Stadtstaates, der langsam aber sicher genug Kraft aufbaut, um die zuvor für unbesiegbar gehaltenen herumwandernden Monster auszuknocken. Thematisch passt alles logisch zusammen und der Spannungsbogen bleibt während des Spiels stets hoch, zum einen durch spielmechanische Tricks (in Runde 2 und 3 kommen Aktionsfelder hinzu, ab Runde 4 wird mit dem besseren B-Stapel an Gebäuden weitergespielt), zum großen Teil aber auch durch das Thema selbst. Schafft man es am Ende z.B. noch, einen Level-3-Titan mit dem noch fehlenden sechsten roten Banner zu besiegen?
* Grafik. Ryan Laukat ist nicht nur der Spieleautor, sondern auch der Illustrator des Ganzen. Wenn Grafiker Spiele entwickeln, geht das nicht immer gut, aber ab und zu schon. In diesem Falle auch; die Leistung in beiden Bereichen ist klar überdurchschnittlich. Dass die Grafik wunderbar zum Spiel passt und alles wie aus einem Guss wirkt, ist bei dieser Konstellation "Autor = Illustrator" eigentlich von vorn herein klar.
* Siegpunkte/Endabrechnung: einfach, aber interessant durch Nichtlinearität. Zwischen 1 SP für 1 Banner und 11 SP für 6 gleichfarbige Banner liegt fast ein Faktor 2 beim Wert pro Banner. Das scheint mir nach meinem ersten Eindruck sehr gut ausgewogen zu sein. Gleiches gilt für die Regel, dass mehr als 6 Banner keinen Mehrwert mehr bringen. Das ist gerade so viel, dass man strategisch vorgehen muss, um die paar Punkte zu holen, die ein Spiel dann entscheiden können. Wer einfach sammelt, was sich ergibt, schneidet schlechter ab.
* "Die vergessene Welt" ist eher kurz für ein Spiel dieser Komplexität. Das heißt dann auch: viele interessante Spielentscheidungen pro Zeiteinheit. Es ist keine Kunst, eine gute Idee auf epische Breite auszuwalzen. Es ist eine Kunst, etwas kurz und knackig zu präsentieren.
* Das "kurz und knackig" ist umso mehr wert, wenn trotzdem noch einige innovative Mechanismen enthalten sind. Das Bauen von Gebäuden, die irgendwelche Vorteile bringen, ist noch ziemlicher Standard, das leicht aufgebohrte Arbeiter-Einsetzen mit verschiedenen Wertigkeiten in der zweiten Generation worker placement weitestgehend auch (2014 ist mittlerweile 8 Jahre nach Caylus oder Säulen der Erde!), aber das Bekämpfen der Titanen (und das ist der Hauptteil!) ist gespickt mit tollen Ideen. Dazu zähle ich z.B. das Zerstören von Infrastruktur bei Kämpfen oder den eigenen Armeeaufbau (steigende Einsatzkosten bis zum Ausmustern, dann Übergabe von Fähigkeiten an neue Rekruten).
Neutral:
* Zwei Wege führen zu Bannern: Bauen und Kämpfen. Nach meinen Spielerfahrungen sind sie nicht gleichwertig; ganz ohne Kämpfen wird's schwierig zu gewinnen. Das ist, in Anbetracht des Themas, aber völlig in Ordnung. Wir sollen uns schließlich nicht einigeln, sondern aktiv das Land von den marodierenden Monsterhorden befreien. Eine Notiz wert ist hier auch die Tatsache, dass ein Angriff auf Titanen im Gegensatz zum Bauen keinen Arbeitereinsatz kostet. Kämpfen kann und soll man parallel zum Aufbau. Das Spiel hat durchaus den positiven Aufbauaspekt von typischen Stadtbauspielen (es macht Freude, seine Stadt wachsen und gedeihen zu sehen), aber dieser Aufbau ist nicht Selbstzweck, sondern dient primär einem Ziel: "stark genug werden, um die Titanen umhauen zu können".
* Glück spielt eine Rolle. Logisch, wenn gewürfelt wird. Wer gegen Glückselemente allergisch ist, sucht am besten anderswo.
Neutral bis minus:
* Zu sehen, wieviele Boni einem der Haufen von Karten in der eigenen Auslage bringt, ist manchmal etwas fummelig. Ich habe nach ein paar Spielen eine Tabelle gemacht, um mit zusätzlichen Holzwürfelchen dort den Ist-Zustand aller Bereiche festzuhalten ("zusammen 4 Nahrung, 2 Schwert-Boni, 8 Ausbreitungskapazität, 9 Einkommen"), aber nach ein paar Spielen weiß man, wo man suchen muss, und dann geht der Blick auf die Karten schneller als die Verwaltung mit einer zusätzlichen Status-Tabelle. Für Einsteiger ist das aber eine gewisse Hürde, deshalb soll's erwähnt werden.
Minus:
* Als kleine thematische Lücke erscheint mir, dass die Titanen ein Stück zu passiv sind. Sie greifen nie von sich aus an, sondern warten quasi darauf, angegriffen und besiegt zu werden (was aber durch die möglichen Kollateralschäden wohl überlegt sein sollte!). Diese Passivität passt nicht ganz zum Bild der Monster, die das Land terrorisieren. Aber mit Änderungen an dieser Stelle wär's ein anderes Spiel und wenn das Spiel so, wie es ist, nun mal sehr gut funktioniert, dann ist das irgendwie Jammern auf höchstem Niveau. Vielleicht wäre das ein Ansatzpunkt für eine Erweiterung...
Wertung: 8.5/10 -- Dicke Empfehlung; mehr Punkte kann ein neues Spiel bei mir kaum kriegen. Mehr geht erst, wenn der Beweis des hohen Wiederspielwertes über lange Zeit erbracht ist. Unter den Spieles des Jahrgangs 2014 ist für mich "Die vergessene Welt" aber schon mal die Nummer 1. ZhanGuo mit 8/10 knapp dahinter, AquaSphere ist noch ungespielt, das könnte noch Chancen haben, aber vom Rest der mir bekannten 2014er Titel kann da Stand heute keiner mithalten.