Ja denn bittesehr, Herr Klaus_Knechtskern und wer immer sich jetzt hier durchkämpft.
Zuerst die Basics: Wenn ich hier von "Tarantino" schreibe, ist das ein Konstrukt, der Mann besteht ja aus einem ganzen Team von Leuten, die hinter den Kulissen für ihn arbeiten und zu den Filmen beitragen. Quentin Tarantino ist jemand, der von Filmliebe (und wie wir mittlerweile wissen auch von Fernsehliebe) so zerfressen ist wie sonst nur ein mottenverseuchter Bastteppich in Indonesien. Man kann seine Filme grob in zwei Phasen unterteilen, wobei man prüfen müsste, wo man genau den Wendepunkt ansetzt: die Zeit vor Kill Bill, in der er vorrangig zwei postmoderne Verfahren nutzte, die Pastiche und die Collage. Pastiche bezeichnet dabei das Nachahmen kultureller Artefakte bestimmter Zeiten mit modernen Mitteln und unter der Voraussetzung, dass diese Artefakte gemeinhin bereits in den Kanon der Kulturgeschichte eingegangen sind. Reservoir Dogs ist klar an französische Vorbilder angelehnt, erinnert gleichermaßen an die Coolness des französischen Gangsterfilms wie Rififi, an Godards Außenseiterbande (der ja seinerseits bereits süffisante Parodie auf US-Gangsterfilme war), an Melvilles Figurenzeichnung (vgl. Vier im roten Kreis), bei der ja schon alle Figuren von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, etc. Es ist aber nicht nur Pastiche des französischen Gangsterfilms (und dessen Begeisterung für den US-Gangsterfilm), es ist zugleich auch Collage, denn Elemente ganz anderer historischer Medien, Genres und Filmnationen fließen mit ein. Den Plot entlehnt der dem chinesischen Heroic-Bloodshed-Klassiker "City on Fire" von Ringo Lam, die Musik wird mit obskuren Hits vergangener Tage bestritten, die ebenfalls ganz generell Seventies-Feeling aufkommen lassen (auch wenn Like a virgin diskutiert wird). Reservoir Dogs ist ästhetisch also klar an bestimmte Vorlagen angelehnt, inhaltlich zugleich davon erfüllt, dass solche und andere kulturelle Vorgaben dann leidenschaftlich zitiert und diskutiert werden, und sei es Essen. Es handelt sich aber hier letztlich um einen Film aus einem Guß, der einem Thema treu bleibt.
Diese formale Strenge ist in Pulp Fiction komplett aufgegeben, ebenso wie die stringente Narration. Tarantino nutzt stattdessen her eher die postmoderne Fassung der Architektur nach dem Motto "anything goes". Grob wird er durch einen ästhetisch und von den Figuren her an Film Noir erinnernden Rahmen zusammen gehalten, der ja bewusst zeitlos wirkt, so dass Elemente der 30er bis 70er wie selbstverständlich direkt nebeneinander stehen können. Der Schwerpunkt auf die Pastiche weicht also vielmehr der Collage, dem wilden Zitieren all dessen, was Tarantino vermutlich toll findet. Der sogenannte Sophomore Slug, der berüchtigte zweite Film, der vielen Regisseuren nicht gelingt, wird hier also bewusst umgemünzt zu "ich kann einfach alles machen was mir gefällt". Tarantinos Glück war, dass er erstaunlich viele Menschen fand, die diese Elemente überwiegend ebenfalls cool fanden, und er so nicht nur Kultur spiegelte und neu zusammen setzte, sondern eben auch die Kultur seiner Zeit selbst stark prägte, indem diese neu zusammen gesetzten Elemente stilbildend wurden. Will sagen: Pulp Fiction fungiert wie eine kulturelle "Wiederaufbereitungsanlage": Die Stilelemente verschiedener Zeiten kommen bei ihm auf ungewohnte Weise zusammen, diese Mischung ist dann aber so populär, dass sie in die aktuelle Kultur (der 90er) unter dem Label "retro" eingehen. Ohne dass dabei eigentlich klar ist, was hier "Original" und was hier "Tarantinos Blick auf die Kultur" ist.
Was Tarantino darüber hinaus besonders macht, ist seine fundamental andere Rezeption in den USA und hier. In den USA gilt er als jemand, der fremdsprachige Filme, das sog. World Cinema, in den heimischen filmischen Diskurs einspeist, der also quasi heroic bloodshed und französische Gangsterfilme durch sein Zitieren erst populär macht. Hierzulande hat er eine erstaunliche Symbiose geschaffen, die es so vorher nicht gab: Er hat die Gewalt/Acion/Horrorfans (spätestens mit From Dusk till dawn) für sich eingenommen und gleichzeitig die Violine fürs Feuiletton gespielt, so dass die ehemals als Mainstream/niveaulose Filme wahrgenommene Ware über die Vermittlung von Tarantino dann plötzlich wiederentdecken und feiern konnten. In Deutschland gab es quasi vor Tarantino nur bruchstückhaft eine richtige Kultur der Filmkritik zum Mainstream, vorher war das ablehnende Denken der Frankfurter Schule, die Hollywood als Kulturindustrie sah, allgegenwärtig. Das wird hier aufgebrochen, und dafür kann man Tarantinos Filmen (und einigen seiner Zeitgenossen) nur dankbar sein.
Sprung nach vorne: Was läuft jetzt seit Kill Bill anders? Nun, die Filme selbst sind immer noch durch Mechanismen der Collage und der Pastiche geprägt, aber sie werden zu einem anderen Zweck eingesetzt. Programmatisch ist da das Zitat am Anfang von Kill Bill: "Revenge is a dish served cold" - "Old Klingon Proverb". Nee, isses natürlich nicht, es ist ein Zitat aus einem französischen Briefroman des 18. Jahrhunderts namens Les liaisons dangereux, und wer spielte da die Hauptrolle in der Verfilmung? Richtig, Uma Thurman. Diese Art von Rätselanordnung, von falsch zugeordneten Zitaten, das wird zum zentralen neuen Bestandteil von Tarantinos Filmen. Es geht nicht mehr (nur) ums Abfeiern der filmischen Kulturen die er zitiert, es geht ums bewusste Inszenieren wechselseitiger filmhistorischer Abhängigkeiten. Kill Bill wechselt mit der Steinsalzszene quasi ostentativ das Genre, vom Martial-Arts- zum Italo-Western. Der gute alte Gag "Ich kann Karate! - Ich kann Winchester" in seiner filmischen Inszenierung ist hier aber schon zu spät, schon davor ist der Plot weitaus näher am europäischen denn am optisch vorherrschenden asiatischen Kino. Man denke an die Anime-Sequenz, in der Lucy Lius Kindheit thematisiert wird. Bis ins kleinste Detail kopiert das den Anfang von Der Tod ritt dienstags, einem Italowestern, der hier in ein japanisches Anime umgetextet und kulturell verschoben wird. So wie eben auch martial arts-Kino und Italowestern, obwohl aus völlig unterschiedlichen Kulturen, sich während sie die Kinos der Welt dominierten, gegenseitig beeinflusst haben. Und ja sogar aus der gleichen Quelle stammen: "Für eine Handvoll Dollar" ist ein Remake von Akira Kurosawas Yojimbo, der wiederum ist eine bitterböse Abrechnung mit dem jidai-geki, dem ehrenvollen Samuraifilm, so wie der Italowestern eine bitterböse Abrechnung mit dem US-Western ist. Und: Yojimbo ist maßgeblich beeinflusst durch Chandlers Kurzgeschichte Red Wind, die archetypisch für die Hardboiled Novel steht - und damit eben auch für den Film Noir, der in Pulp Fiction ästhetisch so wichtig war.
Ich könnte das Spiel (und ein Spiel ist es bei Tarantino, eine spielerische Versuchsanordnung, die immer interessant bleibt, und die die Filme quasi endlos sehenswert macht) jetzt noch weiterspielen, auch mit allen anderen Filmen (der vielgescholtene Death Proof etwa verbindet US-Sexploitation, italienische B-Ware mit einer Ästhetik, die an Antonioni gemahnt). Aber kommen wir zu Hateful Eight - hier macht Tarantino etwas eigentlich unerhörtes: Er nutzt vorgeblich die Optik des Epics und des epischen Western a la How the West was won (und epischer als Ultra Panavision wird es in der Filmgeschichte nunmal nicht mehr), aber er dreht ein kleines Kammerspiel mit einem Plot, den man aus sehr vielen verschiedenen Folgen von US-Fernsehwesternserien bereits kennt (die direkte Vorlage ist eine Episode von Gunsmoke/Rauchende Colts, die es sogar in der Radiofassung vor dem Fernsehen schon gab und im Fernsehen dann nochmal verfilmt wurde). Kammerspiel und Breitwand klingt erstmal widersprüchlich, hat aber auch in der Filmgeschichte viel miteinander zu tun. So sind etwa die Filme von Otto Preminger absichtlich in Breitleinwand gedreht, um die Klaustrophobie der Handlungsorte zu betonen (z.B. der Gerichtssaal in Anatomie eines Mordes). Hateful 8 will uns also die Brillanz der Dialoge im US-Fernsehwestern nahebringen, die ja auch zumeist als Kammerspiel inszeniert sind, und nutzt dabei aber die gegenläufige Optik des epischen Western. Es geht hier um die Verbindbarkeit des Unverbindbaren, bzw. das Aufzeigen, dass diese vermeintlich gegensätzlichen Pole immer schon interagiert haben und zusammen gehören. Im Kern ist Hateful Eight eine Langfassung jener 30 Sekunden aus The Searchers, die auch Kill Bill schon zitierte: Der Schritt aus dem Haus/aus der Kirche in die Weite der Prärie. Tarantino lenkt hier und noch mehr im Folgefilm "Once upon a time in Hollywood" den Blick aufs Drehbuch, und wie gut die schon im Fernsehen der 1960er waren (kein Wunder, die meisten brillanten Filmemacher der 60er und 70er haben beim TV angefangen, z.B. Sam Peckinpah). Man kann bei Tarantino immer ganz schön sehen, wie der erste Film den nachfolgenden Film schon präfiguriert, wie sich Themen durchziehen, die dann erst einen Film später wiederkommen, oder die wie in einer Reprise noch einmal aufgegriffen werden (so hier in Hateful eight das Rassismusthema aus Django). Zudem nähert sich Tarantino hier wie in den letzten Filmen einer außerfilmischen Wirklichkeit und deren Themen an, bis hin zur Thematisierung wirklicher historischer Ereignisse in Inglourious Basterds, Django und zuletzt natürlich Once upon a time in America, die durch seine Brille dann eben in einer Art gloriosen, kathartischen Fantasiewelt auch einfach mal positiv ausgehen dürfen.
Tl;Dr: Pulp Fiction feiert Kulturgeschichte (und ist selbst zu ihr geworden. Hateful Eight ist quasi eine Studie über Kulturgeschichte. Beides ermöglicht neues Denken über alte Filme und Serien.