Beiträge von LeGon im Thema „Spiele, die das Hobby in Verruf bringen. Ganz seriöses Thema. Echt jetzt.“

    Lieber Bierbart,


    nach deinen erhellenden Gedanken möchte ich nachfolgend kurz darlegen, weshalb Everdell für mich ein heißer Favorit auf den Titel VSdJ (verrufenes Spiel des Jahres) ist.


    Bereits bei oberflächlicher Betrachtung wird man den Eindruck nicht los, dass hier typische Stereotype bedient werden sollen - alte grüne Bäume, die allein aufgrund ihrer schieren Größe die Welt regieren, klischeehafte Rollenverteilung der Tiere, die unterschiedliche Bewertung von Ressourcen - wie ein Vergleich von Holz und Perlen zeigt - aufgrund ihrer äußeren Erscheinung, um nur einige zu nennen.


    Um obige Beobachtung an einigen konkreten Beispielen zu erläutern, werfen wir einen näheren Blick auf ein paar Karten:


    Bei Betrachtung des Mäuse-Ehepaars sticht nicht nur die patriarchalische, LBGTQ-ignorante Familienzusammensetzung sofort ins Auge, bei welcher es dem Mann vorbehalten bleibt, die Brötchen zu verdienen und die Frau als bloße „Wohlstandszierde“ (zumeist versteckt hinter dem Herrn des Hauses abgelegt) herhalten muss, zusätzliche - ich möchte fast sagen subversive - Details wie der Korb der braven Ehefrau unterstreichen die klassische Aufteilung in „Sammlerin“ und „Jäger“.


    Blättern wir ein paar Karten vor, so wird der possierliche Skunk aufgrund seines bloßen Geruchs als einziger mit einer „-1“ stigmatisiert und endet als unerwünschter Outsider der dörflichen Gemeinschaft, mit etwas Pech sogar in einer Zelle - wer genau hinschaut, vermag diese pauschale Schwarz-Weiß-Sicht der Dinge sogar in seiner Fellfarbe zu erkennen. Dieselbe Fellfarbe (sic!) schmückt übrigens unsere Quotenpromo, den Waschbären, der seinem Ruf gerecht wird und eigentlich auch im Spiel zu nichts zu gebrauchen ist.


    Im weiteren Verlauf stoßen wir auf weise Raben, billige Trödel-Marder, die sich in Abstinenz von Autoschläuchen an anderen Ressourcen versuchen, Kröten, die niedere Fährarbeiten verrichten und fiese Rattenfürsten, um das Bild abzurunden. Nur wer genau weiß, wo er hinsehen muss, erkennt überhaupt, mit wie vielen Exemplaren jeder Art er konfrontiert werden könnte (auch wenn dies nur für die „gewöhnlichen“ Tiere dieser perfide konstruierten Zwei-Klassen-Gesellschaft relevant ist).


    Der Baum als immersives Spielerlebnis ist eigentlich eine hübsche Idee, bevorzugt aber große Leute, welche die darauf ausliegenden Ereignisse wenigstens halbwegs erkennen können und sorgt in späteren Partien für ersten Resilienzabbau, wenn sich die Pappflächen langsam voneinander lösen und den Zusammenbau zum Geduldsspiel mutieren lassen. Die billige Verarbeitung erstreckt sich aber nicht nur auf die ausgestanzten Pappteile, es wurde auch aktiv an Material gespart, was auf den erste Blick erkennbar ist: Wer sich schöne, runde Perlen gewünscht hat, erlebt ein böses Erwachen, wenn er das erste Mal mit den abgeschnittenen Kugelstümpfen konfrontiert wird.


    Wer Everdell dennoch spielen möchte, muss nicht nur damit rechnen, mit übelsten mittelalterlichen Gesellschaftsstrukturen konfrontiert zu werden (sofern er das Blendwerk niedlicher Tierportraits durchschaut), auch die Qualität und Materialwahl der Komponenten (fällt eine der Beeren hinunter, so kann eine Suche aufgrund der Gummierung schon einmal länger als der Rest der Partie dauern) lassen, gepaart mit der ungleichen Stärkeverteilung der Karten (im Volksmund: „brokenness“), schon zu Beginn verlässlich ein Gefühl von Spielfrust aufkommen, der sich gegen Ende des Spiels für gewöhnlich in einem Flippen des Spielbretts (kleiner Pluspunkt: der Baum fliegt mitunter sehr effektvoll durchs Zimmer) äußert. Schade.