So. Spielregel gelesen.
Mechanischer Kern des Ganzes und vermutlich ein Ausgangspunkt der Entwicklung ist eine Variante des Rad-Mechanismus von Glasstraße (der wiederum seine Wurzeln bei Ora et Labora hat). Es gibt neben Geld ("Talern") fünf warenartige Ressourcen, drei einfache und zwei bessere. Die ersten werden von einem drehbaren Zeiger aus gegen, die zweiten im Uhrzeigersinn gezählt. Eine Drehung des Zeigers vermindert dann die einen und erhöht die anderen Ressourcen, d.h. es entspricht einem Ressourcentausch A+B+C => D+E. Einmal darf man kostenlos pro Runde drehen (Voraussetzung natürlich: mindestens je 1 A,B,C vorhanden), ansonsten muss man dafür Geld bezahlen.
Gespielt wird auf einem 4x3 Feld, wobei auf den Feldern Karten ("Bauwerke") ausgelegt werden und auf den Kanten zwischen den Feldern sowie am Rand vier Arten von Plättchen platziert werden ("Strecken" = "Wege|Straßen|Schienen|Kanäle"). Schienen und Kanäle müssen jeweils ein zusammenhängendes Netz bilden. Zusätzlich können auf den inneren Kanten auch spezielle Holzspielsteine ("Brücken") platziert werden. Karten werden durch Umschließen mit vier Strecken irgendwelcher Art oder durch Bau der zweiten Brücke sofort aktiviert. Das kann maximal zweimal im Spiel passieren, einmal auf jede Art.
Diese Kartenaktivierung ist das zentrale spielerische Element von Oranienburger Kanal. Sie ist nicht nur komplex auszulösen, sondern viel mehr noch in ihrem Ertrag komplex, weil sie (zumindest bei den in der Spielregel gezeigten Beispielen; ein komplettes Kartenglossar gibt's nicht) den Zustand des eigenen Spielplans bewertet, normalerweise indem der Ertrag von irgendwelchen zuvor gebauten Sachen abhängt, und das wiederum in diversen geometrischen Konfigurationen: benachbart gebaut, am Rand der Karte, irgendwo auf dem Plan, usw.. Das bringt dann gleichzeitig auch einen Timing-Aspekt herein für den richtigen Aktivierungszeitpunkt.
Teils können bei der Aktivierung auch mehrere Effekte parallel genutzt werden, die an unterschiedlichen Bedingungen hängen. Pi-mal-Daumen: Alles, was man sich an komplexen Bedingungen und Effekten vorstellen kann, kann man finden. Etwas wie "bei 1/2/3/4 zur aktivierten Karte benachbarten Kanälen gibt's 2 Eisen und zusätzlich 0/2/4/6 Holz" ("Bootshalle") ist bezüglich der in der Spielregel abgebildeten Karten keineswegs am oberen Ende der Komplexität, sondern relativer Standard. Wer Oranienburger Kanal spielt, soll auf solche Auszahlungen hinoptimieren.
In jeder Spielrunde wählen beide Spieler dazu nacheinander zusammen 5 verschiedene aus insgesamt 7 Aktionen (im wesentlichen: irgendwas bauen). Inklusive Geld gibt es sechs Ressourcen. Alles Mögliche kostet bzw. bringt irgendwas, teils beim Bau, teils bei Aktivierung. Am Ende gibt's für alles Mögliche Siegpunkte, abzurechnen über einen Wertungsblock. Normaler Standard halt.
Das Ganze hat eine gewisse Rosenberg-typische Eleganz in der mechanischen Umsetzung. Damit meine ich, dass erkennbar darüber nachgedacht wurde, wie spielmechanische Anforderungen so realisiert werden können, dass der Spieler nur wenige Handgriffe dafür braucht. Das wird deutlich z.B. beim Rad, aber auch bei anderen Dingen, etwa bei "jedes Plättchen zählt genau einen Siegpunkt" in der Schlussabrechnung oder wenn das Leeren eines Kartenstapels ein Aktionsfeld darunter freilegt, und so das Spiel vorantreibt. Oder bei der Aktionswahl, wo anstelle von "legt nacheinander Scheiben auf unterschiedliche Aktionsfelder" ein Mechanismus auftaucht ähnlich zu den Scheibenstapeln bei Istanbul: Indem man den Stapel versetzt und dabei immer die unterste Scheibe liegen lässt, kann man an einer anders eingefärbten obersten Scheibe immer die aktuell gewählte Aktion erkennen.
Während die Umsetzung mich sofort überzeugt hat und ich auch den starken geometrischen Aspekt des Spielens auf Felder und ihren Kanten samt Netzbildung mag (was aber nicht mehr ist als persönliche Präferenz), kann ich mich für die Inhalte nicht ganz so direkt begeistern. Das ist doch alles sehr, sehr gewöhnliches Euro-Standard-Zeugs ohne besonderes Flair. Gebäude bauen, Ressourcen tauschen, Siegpunkte für alles Mögliche, diese am Ende maximieren. Speziell bei den Siegpunkten finde ich das Spiel auch nicht ganz so elegant. Ich mag eigentlich konstantes Tracking auf Siegpunktleisten viel mehr als das Zusammenzählen von Siegpunktchips und/oder Siegpunkt-Abrechnungen auf tabellenartigen Blöcken. Hier ist das sogar beides zu finden. Aber auch das ist sicher zum großen Teil persönliche Präferenz. Auch sehe ich schon ein paar kleinere unintuitive Regelhürden, über die man leicht stolpern kann, etwa dass man zwar zwei Gebäude gleichzeitig durch eine vierte Strecke zwischen ihnen aktivieren kann (-> Aktivierung in frei wählbarer Reihenfolge), aber wenn eine platzierte Brücke die zweite Brücke für beide durch sie verbundenen Karten ist, dann muss man eine Aktivierung verfallen lassen.
Dass das Spiel nur solo oder zu zweit funktioniert, ist natürlich auch eine Einschränkung, die einen zweimal überlegen lässt, ob man das Spiel wirklich kaufen soll, wenn es andere gute Spiele mit breiterem Einsatzbereich gibt. (Zur Klarstellung: Ich möchte nicht, dass auf Spiele Spielerzahlen draufgeschrieben werden, mit denen es nicht gut funktioniert. Da sollen die Verlage schon ehrlich sein.)
Nach Regellesen verstehe ich auch gut, warum die Macher hier bei zwei Spielern das obere Limit eingezogen haben. Das Spiel dürfte äußerst zielgerichtetes Vorgehen verlangen und wenn vor einem zwei andere Spieler dran sind, könnte das den Zustand des Spielbretts, z.B. die aktuell kaufbaren Gebäude, schon in einem Maße verändern, dass es stört und strategisches Vorgehen zerschießt. Meine Annahme ist auch, dass das Spiel zu zweit unter fortgeschrittenen (!) Spielern enorm interaktiv werden dürfte, viel mehr als man zunächst denkt. Es gibt nicht so viele Stellen, die Interaktion bieten, aber diese wenigen Stellen dürften einen hohen Einfluss haben, wenn man weiß, was man damit für den einzigen Mitspieler anrichten kann. Der ganze Ansatz mit "zusammen 5 aus 7 Aktionen" passt gut zur speziellen 2-Interaktion, bei der "dem Gegner etwas verbauen" prinzipiell genauso gut ist wie ein gleich großer eigener Vorteil, eben weil man keine Angst haben muss, dass davon nur ein unbeteiligter Dritter profitiert.
Ich gehe mal davon aus, dass es nach Kampagnenstart eine TTS- oder Tabletopia-Version zum Anspielen geben wird. Das werde ich auf jeden Fall mal ausprobieren. Insbesondere interessiert mich, wie sich diese Optimieraufgabe tatsächlich anfühlen wird. Bauchgefühl ist: das Spiel ist überwiegend durch eine komplexe geometrische Optimierung getrieben, es wird mir liegen, aber mich wird die geringe thematische Unterfütterung stören. Die ist zwar teilweise schon da (Gebäude mit irgendwelchem wasser-bezogenem Namen X gibt Ertrag Y pro Kanal, Kanal ist zusammenhängend zu bauen, Kanalnetz ist Schienennetz im Weg, etc.), dürfte sich aber trotzdem schnell ziemlich abstrakt anfühlen, wenn die Symbolübersicht auf der letzten Spielregelseite alleine schon 11 Symbole in der Kategorie "Lage auf dem Spielplan" auflistet. Hat man dabei noch das Gefühl, thematisch ein Industriegebiet zu errichten oder ist das bloß eine verkappte Matheaufgabe? Das ist hier die entscheidende Frage. Und bevor jemand einwendet, dass letztendlich jedes Spiel eine Matheaufgabe ist: Ja, klar, natürlich, aber für meinen Geschmack sollte es sich trotzdem nicht danach anfühlen.
Was das übliche: "Och nööö, bloß der nächste Rosenberg-typische Remix alter Ideen" angeht... Das sehe ich hier mal nicht so. Die meisten jüngeren Rosenbergs habe ich nach Regellesen von der Interesse-Liste runtergestrichen. Mir reichen meine 3-4 (?) ausgewählten Rosenbergs zuhause völlig aus. Aber das hier könnte durchaus etwas sein, was man sich näher anschauen kann, in der Hoffnung, dass es nicht zu sehr in Richtung abstrakter Optimierung abdriftet. Wer Oranienburger Kanal nach oberflächlicher Betrachtung als "alles schon gesehen" abschreibt, der übersieht z.B., was die Beschränkung auf nur zwei Spieler dem Autor an zusätzlichen Möglichkeiten beim Design gibt. Und so einen klaren Fokus auf gezielte Aktivierungen und deren optimale Zeitpunkte habe ich bei Herrn Rosenberg auch noch nie gesehen (und überhaupt eher selten im Brettspielbereich, darin erinnert es mich höchstens noch an Heaven & Ale).
Ach ja: Gibt es eigentlich schon Infos, was der Spaß kosten soll?
BTW: Das deutsche Symbol für rechter Winkel (Kreisbogen mit Punkt drin) wird der internationalen, englischsprachigen Brettspiel-Welt sehr komisch vorkommen... Wenn ihr für den internationalen Markt produzieren wollt, dann löst euch von speziellen deutschen Konventionen.