Beiträge von MetalPirate im Thema „Trend zu immer komplexeren Regelmonstern?“

    Echt jetzt?!

    Player Aid Book | Lisboa | BoardGameGeek


    1 Titelseite, 4 Seiten klassische Spielerhilfe (Spielablauf, Rundenstruktur, Zugaufbau, Schritte der einzelnen Zugoptionen) und 3 Seiten das, was üblicherweise am Ende einer Anleitung oder auf einem separaten Blatt steht (Plättchen- und Kartenübersicht). Dass diese "Nachschlage-Sachen" nicht nur einmal da sind und am Tisch herumgereicht werden müssen, sondern jedem Spieler ein Exemplar vorliegt, ist absolut positiv und dürfte gern von anderen Spielen kopiert werden. Zumal man so diskreter nachschauen kann, ohne den Mitspielern seine Pläne zu verraten.


    Aber Aufbau von Spiel/Runde/Zug/Zugoption haben schon einen Umfang, der dazu führt, dass man im ersten Spiel in erster Linie damit beschäftigt ist, keinen der vielen Einzelschritte zu vergessen und alles in der richtigen Reihenfolge zu machen. Und in dem Moment, wo man in Spielerhilfen intensiv blättern muss, erfüllen diese auch nicht mehr den Zweck, einen schnellen Überblick zu bieten. Das sind jedenfalls meine Erfahrungen beim Erklären von Lisboa. Man merkt sich, dass man sowas wie Clergy-Tiles nachschlagen kann, blättert schon für das "wo?", und beim Rest, was in der Spielerhilfe theoretisch drin steht, fragt man schon lieber den Erklärer. Also mich. Mehrfach erlebt.


    Tja. Diese Art von Komplexität ist irgendwo ein Markenzeichen der Spiele von Herrn Lacerda. Auf der "großen" Ebene sind seine Spiele unglaublich thematisch. Aber auf der kleinen Skala sind sie enorm kleinteilig und fummelig mit Abarbeiten von Checklisten bei Zugoptionen, die aus sieben oder acht in der richtigen Reihenfolge durchzuführenden Einzelschritten bestehen. Da geht dann jedes Thema im Mechanismensalat unter, zumal Herr Lacerda einen Hang dazu hat, das gute Dutzend unterschiedlicher Ressourcen- und Aktionsboni, die ein Spiel bietet, wild verstreut überall dran zu tackern, sei es als Symbole auf Karten, wo es beim Ausspielen aktiviert, oder sei es auf Bonusplättchen, die vollen Händen über das Spielfeld gestreut werden, um dann beim Nutzen der entsprechenden Aktion auszulösen. Spätestens da geht dann jedes übergeordnete Thema flöten, wenn man auf die ausliegende Bonusplättchen seinen Zug hinoptimiert.



    @Maftiosi: Spiele aus einer gekürzten Spielregel zu erlernen, das wird dir bei solchen Brocken wie Lisboa nicht gelingen. Ich würde mal sagen: bei den klassischen Alea Big Box Sachen, wo ja rechts in einer Extra-Spalte eine Art Zusammenfassung steht, die völlig reicht zum Wieder-Rein-Kommen, wenn man das Spiel schon mal früher gespielt hatte, da mag das Erklernen nur aus dieser Spalte für den Spielekenner noch so halbwegs funktionierten. Aber auch da steigt schon merklich die Gefahr, ein paar Spielfehler zu machen. Sobald es komplexer wird, dürfte jedoch schnell Schluss sein beim Lernen aus einer Zusammenfassung.

    Die meisten Regelwerke lassen sich auf ein Bruchteil des Originals herunterbrechen.

    Herunterbrechen ja, aber "Bruchteil"?! Sofern du mit Bruchteil nicht sowas wie Reduktion auf 9/10 des Originals meinst, würde ich da widersprechen wollen. Wobei es da riesige Unterschiede gibt zwischen den Verlagen. Gerade im Crowdfunding-Bereich gibt's s wirklich viele Regeln mit enormem Verbesserungspotenzial. Aber die etablierten Verlage sind schon gut. Man darf ja nicht vergessen, dass die Regeln nicht ausschließlich für uns Vielspieler geschrieben werden. Der Regelschreiber muss immer einen breiteren Leserkreis abdecken, weil der Leser im Gegensatz zum Zuhörer bei der Erklärung eben nicht nachfragen kann. (Und wenn er es wollte/müsste, wäre das schlecht für Spiel und Verlag.)


    BTW: Ein Musterbeispiel einer extrem gehaltvollen, recht langen und trotzdem gut geschriebenen und sehr stark eingedampften Regel ist für mich die Regel von Great Western Trail. Mombasa ähnlich.

    Kann natürlich sein, dass das auch daran liegt, dass Ameritrash allgemein intuitiver funktioniert als ein Euro-Spiel, aber nichtsdestotrotz...

    Würde ich (mit kleinen Einschränkungen) schon so sehen. Schwierig verständlich, und zwar in ganz ähnlicher Ausprägung sowohl beim Lesen einer Regel als auch für den Zuhörer bei einem Spieleerklärer, wird es ja nicht nur durch die schiere Menge von Regeln, sondern viel mehr noch durch deren gegenseitige Beeinflussung und deren Zusammenhänge, insbesondere dann, wenn

    • Vorwärtsreferenzen zwingend notwendig werden (Beispiel: "Als allererstes in eurem Zug räumt ihr die Waren von euren Schiffen in den Vorrat. Wie ihr die Schiffe bekommt und wofür die gut sind, erkläre ich auch später" -- Lisboa). Oder wenn
    • verschiedene Regeln logisch parallel stehen, z.B. 3-8 Zugoptionen, diese aber für sich genommen so komplex sind, dass man nach der Erklärung der Einzelschritte A1, A2, A3 usw bis A7 beim Erklären der Zugoption B mit Schritten B1 bis B5 gar nicht mehr weiß, welche Voraussetzungen galten, um auf der übergeordneten Ebene A, B, C oder D machen zu dürfen. (Da sortiere ich bei Erklärungen deshalb gerne die Reihenfolge um von einfach nach komplex.) Oder wenn
    • zum Verständnis eine größere Menge von Auswendiglernen erforderlich ist, z.B. in Sachen Symbolsprache. (Das ist besonders gefährlich für Erklärer, weil man dazu neigt, den Verständnisaufwand von Leuten zu unterschätzen, die ein Spiel im Schnelldurchgang von null auf lernen sollen.)

    Das ist jedenfalls die Sachen, bei denen ich als regelmäßiger Erklärer weiß, dass die Erkläraufgabe nicht einfach werden wird. Punkt 3 kann überall drohen, oft z.B. dann, wenn Sachen mit Gewalt auf Sprachneutralität getrimmt werden. Aber die ersten beiden Sachen sind wohl im schwergewichtigeren Strategiespiel-Bereich besonders häufig anzutreffen. Genau sowas definitiert ja solche Mechanismen-Monster der medium-bis-heavy-weight-Klasse.

    ...und dann gibt es da noch Spiele wie #ChicagoExpress


    Die fangen damit an, dass es von 4 verschiedenen Eisenbahngesellschaften je eine Aktie gibt, und die Spieler mit ihrem Startkapital nun auf diese Aktien bieten sollen.

    Vor 15 oder 20 Jahren gab es noch haufenweise Spiele mit Auktionen. Mittlerweile nur noch wenige. Warum? Weil Auktionen immer eine gute Kenntnis des Spiels verlangen. Klar: Wie soll man passende Gebote abgeben, wenn man den Wert nicht bemessen kann? Aber wer spielt heute noch ein Spiel mehr als fünfmal, bevor die nächste Neuheit auf dem Tisch liegt und ausprobiert werden will?

    Lisboa war auch darunter. Oder Feudum. Oder aktuell Anachrony vor dem ich noch zurück schrecke obwohl es megainteressant aussieht und ewig im Regal liegt.

    Dann möchte ich mal ein bisschen Entwarnung signalisieren: Anachrony ist eine Stufe einfacher als Lisboa (beide schon einige Male gespielt) und vermutlich auch leichter als Feudum (da kenne ich nur die "draft rules" zu Zeiten der KS-Kampagne). Anachrony scheint schwerer, als es wirklich ist, auch durch die ganzen Zusatzmodule, die man beim Erstkontakt aber erstmal getrost ignorieren kann. (Außerdem bietet es mit dem exotischen Thema und den "Ressourcen-Krediten aus der Zukunft" eher wenig Anknüpfungspunkte an bekannte Spiele.)


    Und als ich gesehen habe, dass die Videoerklärung zu Near and Far von Watch It Played 37 Minuten lang ist habe ich es wieder beiseite gepackt und hole es erst wieder hervor wenn ich sicher bin, dass wir ein paar Partien hintereinander weg spielen.

    Ähnlich hier: auch halb so wild. In der Summe zwar eine Menge Regeln, aber jeder Zug ist entweder Stadtaktion oder Kartenaktion. So oder so. Beides kann man vernünftig erklären. Komplex wird Near and Far erst durch die verschiedenen Spielmodi, und auch das braucht man für das erste Spiel nicht zu wissen. Kampagnen-, Arcade- und Charakter-Modus erstmal komplett ignorieren und los geht's.




    Ein Spiel, das mit schlanken Regeln daher kommt, wird meist negativ kritisiert. Ein Spiel mit vielen, vielen tollen und exotischen Regeln gerne positiv wahrgenommen.

    Würde ich so allgemein nicht behaupten. Concordia wurde ja schon als Gegenbeispiel genannt. Richtig ist allerdings aus meiner Sicht, das sehr komplexe Spiele mit "tollen und exotischen Regeln" oft viel Hype entfachen. Komplexität als Selbstzweck ist für mich aber kein Pluspunkt. Da muss man dann oft genau hinschauen, wer sowas warum mit welchen Argumenten lobt (und ob derjenige überhaupt die Regeln gelesen und verstanden hat).


    Und noch etwas: Es kommen immer mehr Spiele über Crowdfunding auf den Markt. Also oft auch Erstlingswerke - entweder von einem Autor, der es ohne Verlag probiert, oder einem neuen Verlag.
    Da fehlt dann tatsächlich oft (meiner Meinung nach) der redaktionelle Feinschliff: Was muss bleiben, weil es essentiell für das Spiel ist? Was kann weg, weil es nur unnötig kompliziert und unverständlich ist??

    Das war definitiv auch ein Faktor bei meiner Beobachtung, dass die Regeln, die ich vor dieser Spielemesse gelesen habe, teils sehr schwer zu verstehen waren. Man liest eben auch viel Kleinverlags-Zeugs, wenn man ganz bewusst auch abseits des Mainstreams sucht. Ich wollte aber nicht auf überladene/ungeschliffene Spiele oder schlecht geschriebene Regeln eingehen, weil das natürlich auch immer sehr subjektiv ist.

    aus dem Yomi-Thread:

    [...] Viele Regelhefte funktionieren nach dem Prinzip: Komplett lesen, verstehen, dann spielen. [...]

    Seufz. Wenn's bloß so wäre...


    Jetzt vor Essen habe ich mich wieder durch sehr viele Anleitungen gequält und was mir im Jahre 2017 aufgefallen ist, ist der Trend zu immer längeren Regeln mit mehr Mechanismen. Motto: "viel hilft viel". So hofft man anscheinend, sich noch von der Masse abheben zu können. In dem mich besonders interessierenden Eurospiel-Bereich sind 16 Seiten Regeln völlig normal geworden und 20 oder mehr auch keine Seltenheit mehr. Spitzenreiter war dieses Jahr Agra mit 28 (!) Seiten Regeln. Das ist jetzt kein Ameritrash-Spiel, wo umfangreiche Regeln für allerlei Sonderfälle da sind und dann entsprechend nachgeschlagen werden können. Von den 28 Seiten Agra-Anleitung ziehen wir meinetwegen ein paar Seiten Anhang mit Plättchenerklärung hinten und Titelseite/Inhaltsverzeichnis/Materialliste vorne ab, aber den Rest braucht man zwingend für jeden einzelnen Spielzug mit seinen diversen Haupt- und Nebenaktionen und allem drum und dran, was dabei zu beachten ist.


    Die Regelhefte, denen ich begegnet bin, funktionierten allzu oft nach dem System: Komplett lesen, Grundstruktur verstehen (mit einem riesigen Haufen offener Baustellen und Fragezeichen im Kopf), ein zweites Mal komplett lesen, dabei wirklich verstehen, dann erst (theoretisch) spielen können. Und den Kram gut erklären zu können, ist dann nochmal eine ganze Nummer schwieriger als das Spielen. Um mal ein schon veröffentlichtes Spiel als Beispiel zu nehmen: Bei Sachen wie Lisboa ist das schon der Horror. Nach dem dritten von fünf verschachtelten Untersystem oder komplexen mehrschrittigen Zugoptionen, die man getrennt für sich erklären muss, bevor man die größeren Zusammenhänge irgendwie sinnvoll erklären kann, schaltet die Hälfte der Zuhörer ungewollt innerlich ab, weil der Kopf soviel Information gar nicht verarbeiten kann. Völlig normal. Wenn man selbst Stunden braucht, um sich eine Regel nach mindestens zweimaligem Lesen komplett drauf zu schaffen (plus Ausprobieren am aufgebauten Spiel plus ggf. BGG-Recherche für Sonderfälle hinterher), wie soll das jemand nach 30 Minuten komprimierter Erklärung schaffen können? Da bringt dann auch die Möglichkeit, den Erklärer etwas fragen zu können, nicht mehr viel. Wer das mal ausprobieren möchte und Lisboa noch gar nicht kennt, kann sich ja mal das knapp 30-minütige Erklärungsvideo von Paul Grogan anschauen. Der Mann kann eigentlich ganz gut erklären. Aber erstens braucht er für Lisboa auch schon ungewöhnlich lange (relativ zu seinen üblichen Erklärvideos) und zweitens behaupte ich mal, dass nur mit diesem Video als Erklärung niemand in der Lage wäre, Lisboa zu spielen.


    Bei vielen Trends ist es so, dass etwas immer mehr und immer stärker wird, bis irgendwann die Gegenbewegung einsetzt. Mal ein bisschen provokativ gesagt: Klar, mit sowas wie "average weight bei BGG über 3,5? Toll, muss ich mir gleich anschauen!" kann man sich ja auch wunderbar elitär fühlen. Heavy Cardboard Guild und sowas. Ganz unempfänglich bin ich für sowas ja auch nicht; Madeira, Vinhos Deluxe oder Dungeon Petz gehören zu meinen Lieblingsspielen. Wann kommt die Gegenbewegung, die dem ein "Regel- und Mechanismenmonster brauche ich nicht mehr, wenn ich's keinem mehr unter einer Stunde erklären kann." entgegen setzt?