Aus meiner Sicht muss ein Spiel sehr wohl Abwechslung bieten. Wenn es nur die eine Spielweise gibt, dann langweilt mich ein Spiel schnell. Das scheint mir bei Lisboa der Fall zu sein.
Nach meiner Erfahrung gibt es bei #Lisboa sehr wohl unterschiedliche Spielweisen und auch bei "erstaunlich eindimenionales Spiel" kann ich dir überhaupt nicht zustimmen. Alleine schon die Komplexität der Endwertung mit so-und-sovielen Einzelwertungen, von diversen Mehrheitswertungen bis zu Wertungen vom Typ "X Siegpunkte für jedes Y", zeigt doch eigentlich schon, dass man auf ganz unterschiedliche Ziele hin spielen kann.
Zustimmen würde ich dir allerdings dabei, dass z.B. vier Mehrheitswertungen für vier Gebäudetypen sich ziemlich ähnlich anfühlen und man im Spiel ziemlich sicher irgendwelche Geschäfte eröffnen muss. Daran geht kein Weg vorbei. (Bei öffentlichen Gebäuden würde ich das allerdings schon nicht mehr so unterschreiben!) Das Bauen-Müssen ist schließlich auch dem Thema geschuldet; Lissabon soll schließlich nach der verheerenden Naturkatastrophe wieder aufgebaut werden. Darum geht's in dem Spiel.
Welche Art von Geschäften man baut (überhaupt baut bzw. bevorzugt baut), ist dann allerdings schon eine sehr wichtige Frage, die einen auch strategisch in ganz unterschiedliche Richtungen bringt, wegen der unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten der vier Ressourcen. Weil eins davon ein Joker ist und man auch auf alternativen Wegen an benötigte Ressourcen kommt (Karten-Ausspielbonus, Bau-Platzierungsbonus), kann man dabei durchaus auch mal eine oder zwei Gebäudekategorien weitgehend ignorieren. Stört auch nicht bei der Endwertung, insbesondere nicht in Vollbesetzung, wo man eh nicht in jeder Mehrheitswertung punkten kann.
Das ist so ein Fall, wo dann die Frage ist, ob man "ich baue im wesentlichen Juweliere für die Joker-Ressourcen, damit bin ich flexibel, und fokussiere mich sonst auf öffentliche Gebäude für die Schuttwürfelchen" für eine andere Strategie hält als: "Ich baue erst Buchläden, um über Bücher die Produktion triggern zu können, und lege mit anderen Gebäudetypen dann nach. Die Mehrheitswertung für die öffentlichen Gebäude gebe ich kampflos ab, da sollen sich die anderen darum streiten. Dafür halte ich es mir offen, in der zweiten Spielhälfte auf eine Schiffsbau- und Exportstrategie umzuschwenken, wenn ich die passenden Karten/Plättchen dafür kriege." Auch die Möglichkeit, durch Gebäudebau ganz unterschiedliche Dauerboni freischalten zu können, spricht einerseits für die grundsätzliche Notwendigkeit von Gebäudebau, aber andererseits auch dafür, dass Gebäudebau dann in ganz verschiedene strategische Vorgehensweisen mündet.
Lisboa lebt dabei für meinen Geschmack auch viel von der Spielerinteraktion. Es hat einige verkoppelte Untersysteme und jeder Zug ändert nicht nur die Situation in dem direkt betroffenen Untersystem, sondern über die Verkopplungen (Treasury Marker!) beeinflusst es auch diverse andere Untersysteme. Wer ein Schiff baut, baut eben nicht nur ein Schiff, welches am Ende Punkte bringt, sondern kann damit später leichter Einfluss erwerben, verbilligt damit für alle das Besuchen der Adligen, erhöht für alle die Kosten beim Bauen, stellt exportorientierten Spielern Transportkapazitäten zur Verfügung (bei deren Nutzung man selbst wieder Punkte holen kann) und noch ein paar indirekte Auswirkungen mehr. Diese Wechselwirkungen zu beherrschen, Entwicklungen vorher zu sehen, und die Mitspieler damit letztendlich auszumanövrieren, ist auch eine Kunst beim Lisboa-Spielen.
Insofern: ja, es ist weniger strategisch geprägt als andere Spiele, da bin ich ganz bei dir! Man kann natürlich einen Schritt zurücktreten und das alles nur als "ich muss irgendwas bauen, meist von allem ein bisschen, und was ich wann baue, entscheide ich im Endeffekt spontan, wenn ich dran bin" wahrnehmen. Aber wer Lisboa überwiegend taktisch angeht, der kommt nicht nur gegen erfahrene Mitspieler auf keinen grünen Zweig mehr, sondern dem entgeht dann auch sehr viel von dem Reiz von Lisboa. Der Reiz liegt ganz wesentlich in den gegenseitigen Abhängigkeiten, so dass kleine Änderungen, in dem, was man tut -- etwa dreimal im Spiel produzieren statt einmal -- dann doch große Auswirkungen auf das "Große Ganze" haben. Aber es steht natürlich jedem frei, derart konstruierte Spiele nicht zu mögen. Vital Lacerda hat schon seine eigene Art, Spiele zu erstellen, und ich mag auch nicht alles von ihm. Zu den Top-10% meiner Spiele zuhause würde ich eigentlich nur Lisboa zählen. Vinhos Deluxe scheitert bei mir daran knapp, Kanban und The Gallerist deutlich, und CO2 wurde längst schon verkauft.