Essen '24 - Erste Eindrücke

  • Werte Leser,

    früher dachte ich, "Messe", das ist das, was man in der Kirche und und so. Heute ist Kirche ja nicht mehr das, was sie früher war, die Religion ist substituiert, ja regelrecht korrumpiert durch das Kapital und "Messe" ist heute konsequenterweise der Höhepunkt des Götzen des Commerz. Rein semantisch das Ganze natürlich sehr interessant, aber alles doch ein wenig RSP und an dieser Stelle deplaciert.

    Als Brettspielconaisseur und bekennender Götzenanbeter jedoch musste ich selbstredend ebenfalls nach Essen, wenn die Fahrt quer durchs Land mit der Eisenbahn dieser Tage doch auch recht beschwerlich werden kann, nicht zuletzt angesichts der zahlreichen Komplikationen, die einem Reisenden im Ruhrgebiet anno '24 drohen. Aber hey, immer noch besser als eine Anreise mit dem Automobil! Ich persönlich hätte da ja viel zu viel Angst, dass sie mir so ein Ding sofort beschlagnahmen könnten, aber bitte, ist ja nicht mein Problem und ich kann mir eh kein Auto leisten. Außerdem, wenn es denn wenigstens genug Parkplätze gäbe. Parkplätze haben uns die Franzosen vielleicht ja auch schon weggenommen, wer weiß. Nebenbei: Wenn ich schreibe, daß ich nach Essen "musste", heißt das natürlich nicht, daß ich tatsächlich dort war. Ich schreibe eher so aus der Entfernung und in der Theorie, aber das reicht ja völlig aus.

    Insgesamt lässt sich jedenfalls feststellen: '24 ist kein Jahrgang, der sich einen bleibenden Eindruck hinterlassen wird. Im Gegensatz zu den ins Unermessliche explodierenden Verbraucherpreisen der vergangenen zwei Jahre scheint die Entwicklung des Brettspiels nämlich zu stagnieren. Verständlich, denn es ist doch sehr fraglich, was in puncto Mechanismen und Themenwahl überhaupt noch kommen soll. Alles war schon einmal da. Nichts gab es noch nie. Alles ist bereits erfunden. "Würfeln und Bewegen" ist der ultimative Mechanismus, und ich sehe nicht, wie (und vor Allem weshalb) sich das in absehbarer Zeit ändern sollte.

    Aber: Ich bin ja thematischer Spieler, da sind mir die Mechanismen nicht gar so wichtig! "Mount Everest" war mein persönliches Highlight '23: Würfeln in Teams, ständig schwere Entscheidungen und natürlich Gletscherspalten! Ich persönlich hätte das Spiel vielleicht besser "Terror in der Todeszone" oder so genannt, das hätte dramatischer geklungen, aber egal, Mount Everest war natürlich ein Monster. Allerdings: Auch im Bereich der thematischen Spielen ist seit mindestens letzem Jahr ein gewisser Ermüdungseffekt zu konstatieren. Immerzu Robinson, Robinson, Robinson... Gott, ich kann's allmählich nicht mehr hören. Im Jahr davon hatten wir ja schon "Der kleine Robinson", ein recht gefälliges, thematisch aber sehr überzeugendes "Würfeln und Bewegen"-Spiel, mit den üblichen Zutaten (wilde Insel, wilde Tiere, wilde Menschen). Ein Freitag darf natürlich nicht fehlen. Stoll und Edwards ziehen heuer hinterher mit "Lost in the South Seas". Wenn ihr mich fragt, versucht da jemand, auf der Welle fremden Erfolges mitzureiten. Braucht kein Mensch.

    Was mir besonders auffiel, war ein kleines Spiel der Gebrüder Parker aus den Vereinigten Staaten, nämlich "Excuse Me!". Es erschien zwar bereits im vergangenen Jahr, aber bis der Dampfer in Hamburg anlegen konnte, vergingen ja wieder Wochen und Monate. Der Zoll ist bekanntlich eine einzige Katastrophe, würde mich nicht wundern, wenn's das wieder gewesen wäre. Nicht auszudenken, was geschähe, kämen die Brettspiele eines fernen Tages vielleicht aus noch ferneren Landen, sagen wir Japan oder gar China... Gut, Letzteres natürlich eher unwahrscheinlich, aber zurück zu "Excuse Me!". Heutzutage hat eine Frau vielleicht im Schnitt nur noch vier oder fünf Kinder, aber sie wird sich gewiss dafüber freuen, wenn sich der Nachwuch auf gewaltfreie und spielerische Weise gegenseitig Manieren beibringt. Das Spiel wirbt damit, eben jenes Kunststück vollbringen zu können. Leider ist eine deutschsprachige Lokalisierung noch nicht absehbar, aber ich finde es schon wichtig, daß die Kleinen von Früh auf Respekt im Umgang mit den Erwachsenen lernen, bevor man sie am Ende gar nicht mehr geradebiegen kann.

    Am besten aber ist es selbstredend (haha!), "Würfeln und Bewegen" zu kombinieren mit dem spielerischen Erlernen einer Fremdsprache, sprich (haha!) das "beste beider Welten", um sich zur Abwechselung einmal der Idiome der Amerikaner zu bedienen. "The Day's Doings of a Little Mouse: An Amusing Game for Learning French" versucht sich in eben jenem Brückenschlag. Ob dieser von Erfolg gekrönt ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich finde nämlich, daß Französisch voll doof klingt, darum habe ich es nicht ausprobiert, aber es taugt ganz bestimmt was. Also auf gut Brettspielerphrasendeutsch: Es kommt sicher immer wieder auf den Tisch.

    Überhaupt sind die amerikanischen Verlage dieser Tage stark unterwegs. Sehr anders, aber vergnüglich ist "The Dodging Donkey". Da wirft man einem Esel eine Holzkugel an den Kopf. Es kommt ebenfalls aus dem Hause Parker, richtet sich zwar pro forma an Kinder, aber auch Erwachsenen haben ja hin und wieder Spaß an solchen Dingen.

    Was sonst noch? Ich finde ganze 14 Neuheiten im Jahr doch etwas zu viel des Guten. Weniger wäre mehr.

    Soziale Medien fügen Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu.

    Einmal editiert, zuletzt von Bierbart (5. Oktober 2024 um 00:11)