Über die letzten Jahre hat die Anzahl Spiele, die mit „Thema“, „Immersion“ oder mit „Story“ werben, stetig zugenommen. Ebenso wie der Umfang dieser Spiele. Geschichten, Ereignisse, Begegnungen werden immer detaillierter ausgearbeitet und haben sich von bestenfalls ein paar Zeilen Flavor-Text zu Kurzgeschichten entwickelt. Gleiches gilt für die zugrundeliegenden Kampagnen, die in der Ausgestaltung der Details, Konsequenzen, etc. sehr viel konsistenter sind.
Aufgrund des hohen Aufwands ist die Anzahl Kampagnen jedoch eingeschränkt, ebenso wie die Handlungsoptionen innerhalb einer Kampagne: Es stehen als Entscheidungsmöglichkeiten für die Spieler nur die im Rahmen der Kampagnenerstellung visionierten Handlungsoptionen (die in ihrer Abfolge und Konsequenz natürlich unterschiedlich kombiniert werden können) offen.
Die Frage, die sich mir stellt: Ist das wirklich zielführend?
Entsteht Immersion aus dem Reagieren auf passives Erleben, also auf das Vorlesen einer (detaillierten) Begegnung?
Oder entsteht Immersion dann, wenn die Rahmenbedingungen ausreichend detailliert beschrieben sind und die Spielmechanismen es erlauben, die innerhalb dieser Rahmenbedingungen kritischen Entscheide zu treffen und die resultierenden Konsequenzen zu tragen?
Ich versuche es mit einem Beispiel (im Spoiler, weil lang) zu illustrieren.
Setting und Hintergrund sind in beiden Fällen gleich. Wir sind Princeps (kommandierender Offizier) des Warlord-Titanen „Odis Aeternum“: Eine rund 30m hohe Kampfmaschine mit immensem Vernichtungspotential, geschützt von ablativen Energieschilden und dicker Panzerung, gesteuert durch eine direkt mit der Maschine verdrahtete Crew, mit einem Plasmareaktor im Herzen zum
Stillen des enormen Energiehungers, und beseehlt von einem eigenen Bewusstsein (dem Maschinengeist).
Variante 1:
Der gegnerische Reaver (ein mittelschwerer Kampftitan) versucht, seine überlegene Mobilität gegen deine Feuerkraft zum Tragen zu bringen und verlangt seinem Reaktor alles ab, während er mit grossen Schritten in Richtung deiner linken Flanke eilt und dabei die Distanz bedrohlich verkürzt. Dein Moderati meldet dir, dass die Schilde des Reaver von früherem Beschuss bereits angeschlagen sind. Durch die MIU (Mind Impulse Unit) spürst du, dass der Maschinengeist der „Odis Aeternum“ nach Vernichtung des Reavers hungert. Aber auch deine Schilde sind bereits von früheren Konfrontationen angeschlagenen, und du weisst, dass sich noch irgendwo ein äusserst beweglicher Warhound-Scout-Titan versteckt…
a) Du beschliesst, den Reaver mit einer einzigen, brutalen Aktion zu vernichten und begrüsst den roten Schleier der Zerstörungswut des Maschinengeists. Du befiehlst eine scharfe Drehung, um den Reaver im Frontbereich zu halten und feuerst dann den Apocalypse-Raketenwerfer ab, um die gegnerischen Schilde endgültig zu überladen. Jetzt, da die Schilde kollabiert sind, entlädst du beide bis zum Maximum geladenen Plasma-Annihilatoren direkt in den Torso des Gegners. Mit der Hitze einer Sonne schmelzen sich die Treffer durch die gegnerische Panzerung und verursachen kritischen Schaden am Reaktor. Der Reaver taumelt, fällt mit versagenden Systemen, und vergeht schliesslich in einem nuklearen Feuerball. Abschuss. Doch auch mit Folgen für dich: Durch den
immensen Energiebedarf der letzten Sekunden hat der Reaktor der „Odis Aeternum“ stark überhitzt, und durch den nuklearen Tod des Reaver sind deine Schilde kollabiert.
Erhalte: +1 Kill, -4 Reaktor, kollabierte Schilde, Ausrichtung „West“
b) Geduld gewinnt Schlachten, nicht Heissblütigkeit. Du ignorierst die heisse Wut des Maschinengeists und positionierst dich sorgfältig. So kannst du den Reaver weiterhin im Frontbereich halten und das beste aus der verfügbaren Deckung machen, damit du bei einem Angriff des Warhounds nicht völlig überrascht wirst. Aus der Bewegung heraus feuerst du noch eine Salve aus einem deiner Plasma Annihilatoren auf den Reaver, damit sich dessen Schilde nicht vollständig regenieren. Ausserdem kannst du die Zeit nutzen und deine eigenen Schilde wieder hochfahren.
Erhalte: -1 Reaktor, +3 Schilde, Ausrichtung „Südwest“, Deckung, Alarmiert
Variante 2:
Statt viel Text gibt es hier die entsprechenden Handlungsoptionen, die auf dem Spielfeld ihre direkte Entsprechung finden. Unser Titan, „Odis Aeternum“, hat Werte für Manövrierfähigkeit, Bewegung, Schildstatus, Reaktorstatus, Bewaffnung mit Schaden, Reichweiten und Feuerbereichen, Strukturpunkte, Effekte für kritische Schäden, etc. Auf dem Spielfeld werden räumliche Position sowie Ausrichtung festgehalten.
Es liegt nun an mir in meiner Rolle als Princeps, die Entscheidungen zu treffen und zu überlegen, welche der Optionen, die sich aus der Interaktion von Bewegung, Systemmanagement und Kampf ergeben, für mich nun die Beste ist. Ich entscheide, ob ich den Reaktor bereits bei der Drehung pushe oder nicht, ob ich beide Plasma-Annihilatoren maximal laden möchte oder nicht, ob ich lieber die Schilde weiterhochfahre oder nicht doch den Reaktor für mehr Handlungsspielraum später noch etwas mehr abkühle, oder ob ich vielleicht den Beschuss des Reaver für eine Runde oder zwei akzeptiere, weil „Odis Aeternum“ es überleben wird und ich damit andere Teile meiner Titanen-Kampfgruppe besser in Stellung bringe.