Beiträge von Archibald Tuttle im Thema „Darf man Autoren kritisieren oder ist das respektlos?“

    danom Gehen wir doch mal historisch an die Sache ran. Wenn ich mal kurz die Zeit zu Goethes Veröffentlichungen zurückdrehe, dann war damals das meistverkaufte Buch seiner Zeit nicht etwa der Werther, die Wahlverwandtschaften oder seine italienische Reise, sondern "Rinaldo Rinaldini", eine Räubergeschichte seines Schwagers Christian Vulpius. Nehme ich also Erfolg als Maßstab, wäre Vulpius (den heute kaum noch jemand kennt geschweige denn liest) heute unterbewertet, nehme ich künstlerischen Anspruch als Maßstab, würde man wahrscheinlich den Erfolg Vulpius' aus heutiger Sicht als Überbewertung durch das zeitgenössische Publikum ansehen. Und genau so kann ich mit zeitgenössischen Autor:innen verfahren: Wenn ich z.B. denke, dass Sophia Wagner, die immerhin das SdJ-Stipendium bekommen hat, danach aber m.E. nur durch eine Reihe misslungener Spiele aufgefallen ist (und trotzdem immer noch Spiele bei Verlagen unterbekommt), damals in ihrer Sozialen-Medien-Präsenz überschätzt wurde, dann mag sie das persönlich kränken, aber es ist zumindest aus meiner Sicht eine halbwegs realistische Einschätung ihres Oeuvres. Ebenso kann ich konstatieren, auch wenn ich viele Spiele von Rüdiger Dorn sehr mag, dass er die Qualität und Langlebigkeit, die Goa und Jambo aufweisen, mit keinem seiner anderen Spiele mehr erreicht hat (vielleicht mit Ausnahme von Istanbul).

    Richard Amann und Viktor Peter halte ich zum Beispiel für gnadenlos unterschätzt - irgendwie scheinen alle Leute zu vergessen das die beiden Trickerion und Anachrony gemacht haben (und Turczi nur die jeweiligen Solo Modi gemacht hat soweit ich weiß - aber ihm trotzdem irgendwie oft Credit für diese Spiele gegeben wird)

    Ich lasse mich gerne verbessern, aber m.w. ist Trickerion von den beiden, Anachrony aber maßgeblich von Turczi. Sie standen aber während der Arbeiten an den beiden spielen in engem Kontakt, so dass die gegenseitige Befruchtung dazu inspirierte, sich gegenseitig zu Mitautoren zu ernennen.

    ..und Suchy ist ein Superbeispiel, denn diese "Überbewertung" (wenn man sie so nennen will) resultiert ja daraus, dass Underwater Cities tendenziell atypisch für seine sonstigen Spiele ist. Es ist relativ konventionell gebaut und dadurch zugänglicher, mit Mechaniken, die es so vorher schon in anderen Spielen gab, es arbeitet mit sehr variablen Karteneffekten, es ist dezidiert kein Mangelspiel, weder was Ressourcen noch was Aktionsmöglichkeiten angeht - all das ist aber in seinen anderen Spielen eher unüblich bis gar nicht vorhanden. Die sind ja eher durch verkopfte Neuinterpretationen bekannter Mechanismen (die Rondelle in Rondellen in der Werft, die 5mal in einer Runde geänderte Spielerreihenfolge im Sechstädtebund, die "zerteilten Würfel" in Woodcraft) gekennzeichnet. Will sagen: Sein bekanntestes und wohl auch erfolgreichstes Spiel ist ein ziemlich mieser Ratgeber, um sich seinen anderen Spielen zu nähern.

    Nachdem ich ja schon im letzten Thread versucht habe, so ein bißchen ernste Grundlage für mögliche kritische Ansätze zu liefern, hier ein zweiter Versuch:


    1. Kritik ≠ negative Äußerung. Der Begriff hat sich zwar im Umgangssprachlichen leider dahin entwickelt, aber zunächst beinhaltet Kritik nicht unbedingt, dass etwas Negatives gesagt wird - daher heißt es ja auch Filmkritik oder Literaturkritik. Ergo kann eine Spielkritik auch völlig ohne negative Aspekte auskommen, ebenso eine kritische Auseinandersetzung mit einem Autor.

    2. Spiel ≠ Autor. Ein Spiel zu kritisieren erscheint hier ja quasi allen erlaubt. Auch da muss ich mich ja erstmal fragen, was die Grundlagen einer Kritik sind, und ob wir Kriterien finden anhand derer wir uns kritisch äußern und die wir für mehrere Spiele verallgemeinern können, um so auch einen Rahmen für Vergleiche herstellen zu können.

    3. "Autor"- was (oder wer) soll das eigentlich sein? Ist der "Spieleerfinder" der Autor, oder vielmehr eine fiktive Konstruktion aus dem, der sich das Spiel ausdenkt, dem Redakteur, dem Grafikdesigner, mithin sogar den Testspielern, die ja alle Einfluss auf das fertige Produkt nehmen?

    4. Wenn ich Kritik an einem Spiel erlaube, darf ich - abgeleitet von einer Sammelbetrachtung mehrerer Spiele - auch Kritik an dem leisten, den ich als Urheber dieser Gruppe von Spielen identifiziere. Wer als Urheber kommerzieller Produkte in Erscheinung tritt, muss damit leben, dass sein Werk kritisch durchleuchtet wird, das bringt die Öffentlichkeit mit sich. Das hat nichts, aber auch gar nichts mit der Person hinter diesen Werken zu tun, sondern nur mit dieser Rolle als "Urheber".

    5. Zumindest ich hätte "überschätzt" nicht so negativ gesehen wie die meisten von Euch, bin aber bereit, das - auch unter dem Eindruck des völlig entgleisten Threads zuvor - so zur Kenntnis zu nehmen. Dennoch denke ich, dass es eine Art öffentlicher Anerkennung für Autoren gibt, die stellenweise Formen des Fandoms annehmen, wo dann doch recht unreflektiert Spiele gefeiert werden, obwohl sie doch recht deutliche Schwächen oder andere Angriffspunkte zeigen. Sprich: Kommt ein neues Spiel von einem gefeierten Autoren raus, so hat das ein gewisses Maß an Vorschusslorbeeren, weil man der Arbeit dieses Autors vertraut - und genau an dem Punkt kann man m.E. die Frage stellen, ob dieser Autor das auch verdient, oder auch nur darauf hinweisen, dass wahrscheinlich nicht alle Spieler mit seinen Spielen glücklich werden.

    6. Und zuletzt: Je mehr Marketing den Autor eines Spiels in den Vordergrund stellt (und in unseren Nerdkreisen tut es das ja zunehmend), umso mehr muss sich dieser Autor auch gefallen lassen, zur Zielperson eines Diskurses zu werden, in dem die Vor- und Nachteile seiner Spiele beleuchtet werden. Marketing will vermarktbare Kategorien und name-branding, um Erfolge zu erzielen. Wiedererkennbare Namen können aber ebenso gut dazu führen, dass man bestimmte Spiele als Gruppe gemeinsam betrachtet. Beispiele: Dass sich viele Spiele von Uwe Rosenberg ähneln, kann Menschen die gerne mehr Varianz hätten stören. Dass viele Stegmaier-Spiele Probleme mit der Balance haben kann andere Menschen ebenso stören. Das sind dann keine Aussagen über einzelne Spiele mehr, sondern eine aus den Spielen abgeleitete Beobachtung über ihre Urheber. Und auch die ist m.E. völlig zulässig und hat mit "Bashing" nichts zu tun.