Beiträge von uf0mammut im Thema „Corona-Tagebuch für jedermann/frau“

    Liebes Tagebuch,


    Ich höre jetzt auf zu lamentieren. Lamentieren ist ineffizient. Das Coronavirus, dieses winzige Paket aus RNA und Eiweissen, kümmert sich einen Dreck um unsere Meinungen und Gefühle. Wir können das Virus nicht wegwünschen.

    Ich akzeptiere, dass ich kein grösseres Wissen bezüglich Covid-19 habe als die Experten, Epidemiologen, Virologin, Volkswirtschafterin oder Mediziner.


    Selbst jene Menschen, deren Hauptberuf es ist, Covid-19 und dessen Folgen zu verstehen, schwimmen in einem Meer von Ungewissheit. Meinungen sind wie Nasen: Jeder hat eine. Wir halten sie selbstverliebt in den Wind und tun so, als könnten wir die Zukunft erschnüffeln. Sparen wir uns diese Wichtigtuerei. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Meinung du jour ins Schwarze der Wahrheit trifft, ist verschwindend klein.


    Erfolg, Misserfolg, Glück und Pech sind Dinge, die grösstenteils ausserhalb der persönlichen Kontrolle liegen. Niemand hat vor seiner Geburt Bewerbungsgespräche mit Anwärtern für die Stelle als «Mutter» und als «Vater» geführt und dann die beiden Stellen mit den Topkandidaten besetzt. Wir haben uns weder die Familie ausgesucht, in die wir hineingeboren wurden, noch unsere Intelligenz, noch unsere Persönlichkeitseigenschaften.

    Nicht einmal die Postleitzahl stand uns vorgeburtlich zur Auswahl. Intelligenz, beispielsweise, ist aber entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg. Wenn man nicht intelligent ist, hat man schon verloren. Genauso zufällig ist es, ob der Wirtschaftszweig, in dem man tätig ist, zu den Corona-Gewinnern oder den Corona-Verlierern gehört.


    Also ist es nicht mehr als fair, die Pechvögel in diesem Spiel zu unterstützen. Klar: Ein fiskalischer Eingriff der derzeitigen Grösse wird uns vermutlich zukünftiges Wachstum kosten, langfristig vielleicht sogar Inflation bescheren (was nichts anderes ist als eine Steuer auf Cashflows), aber sie wird uns nicht umbringen. In einem bewaffneten Konflikt würden wir auch nicht vor sogenanntem Deficit-Spending zurückschrecken.


    Solschenizyn im Gulag, ein schlammiger Schützengraben in Ypern voller Gefallener, ausgemergelte Auschwitz-Häftlinge hinter Stacheldraht, das ikonische Foto panischer Kinder, das Nick Ut während des Vietnamkrieges geschossen hat. Ein flüchtiger Blick darauf genügt, um mich des Folgenden zu versichern: Diese Pandemie ist dagegen ein Spaziergang.

    Die Erfahrung zeigt: Meistens findet das Ende der Welt nicht statt.


    Selbst wenn Ich an Covid-19 sterben müsste, hätte ich vermutlich länger und besser gelebt als alle meine Vorfahren der letzten tausend Generationen. Wir vergessen, dass wir den Tod stets in uns tragen. Er ist Teil unseres Lebens.


    Dann ist das halt so. Ich habe mich vor einigen Jahren entschieden: Das Wettrennen «Wer lebt am längsten?» mache ich nicht mit, es hat etwas Lächerliches (und, wenn man sich in Altersheimen umschaut, oft etwas Tragisches). Wer mental auf den Worst Case vorbereitet ist, hat weniger Angst, mehr Seelenruhe und denkt klarer. Es gibt nur eine Ausnahme, gegen die man machtlos ist: wenn der Tod nach den eigenen Kindern greift.


    Selbst im denkbar strengsten und längsten Lockdown sind wir noch immer frei. Auch ein Sklave ist frei im Wichtigsten – nämlich in seinen Gedanken. Niemand kann ihm diese Freiheit rauben. Die Qualität des Lebens hängt massgeblich von der Qualität der Gedanken ab.