Zuerst vorneweg: Wirklich beantworten kann dir das nur ein Spieleautor, und in wie weit der über seine "Betriebsgeheimnisse" zu reden bereit ist, ist natürlich immer fraglich. Ich lese allerdings gerne mal "Designer Diaries", Autorentagebücher, auf BGG und da kriegt man schon so einiges mit. Deshalb mal eine persönlich gefärbte Antwort eines interessierten Beobachters.
Ist jeder Spieleentwickler ein Mathematiker
Nein. Es gibt zwar einige, die einen Hintergrund in einem MINT-Beruf(*) haben (z.B. Stefan Feld oder Reiner Knizia), vielleicht sind solche Leute auch überproportional vertreten, aber bei genügend anderen Autoren, deren Beruf bekannt ist, ist das nicht der Fall. Da gibt's die komplette Vielfalt an allen denkbaren Berufen.
(*): Mathematik / Informatik / Naturwissenschaften / Technik
Wird jedes Brettspiel digitalisiert, um dem Computer die Balancingproblematik zu übergeben?
Ganz sicher nicht. Ich lese ganz gerne mal "Designer Diaries" auf BGG, aber ich weiß konkret nur von einem einzigen Spiel, das mit Computerhilfe und intensivsten Simulationen gebalanced wurde (nämlich Sidereal Confluence).
(Persönliche Meinung: wenn manche Autoren/Verlage wenigstens ein bisschen mehr Ahnung von Systemtheorie oder mathematische Modellierung hätten, oder auch von den mathematischen Hintergründen der Spieltheorie, gäbe es so manche wirklich schrottige Balance bzw. schlechte Anpassung auf unterschiedliche Spielerzahlen nicht. In dem Bereich ist noch deutlich Luft für eine Professionalisierung der Spieleentwicklung. Wobei man natürlich nicht zuviel erwarten darf. Fast alle Spieleautoren machen das hobbymäßig und bei den guten Verlagen gibt's dann Redakteure, die allein schon aufgrund ihrer Erfahrung das meiste, was aus dem Ruder laufen könnte, wieder geradebiegen. Das ist dann auch der Grund, warum mir der Verlag hinter einem Spiel nach mehr als zwei Jahrzehnten Spielerfahrung mittlerweile mindestens genauso wichtig ist wie der Autor.)
Wie schafft man es, dass alle Mechaniken reibungslos ineinandergreifen [...]
Klassischerweise: Playtesting, immer wieder, hundertfach. Am besten mit erfahrenen Testspielergruppen, die einem wertvolles Feedback geben. Wobei ich durchaus der Meinung bin, dass man mit geschicktem Einsatz des Computers da einen gewissen Faktor an Entwicklungszeit einsparen könnte.
(Allerdings müsste man dabei auch aufpassen: perfekte Balance ist nicht alles. Spielspaß kann der Computer nicht bewerten! Oft ist's für ein Spiel besser, dem Spieler lieber Spaß machende Sachen zu erlauben, als sie im Namen der Balance zu opfern.)
Bei den Autoren mit MINT-Background gehe ich davon aus, dass die als Design-Grundlage Wertetabellen haben, z.B. "1 Holz = 1,5 Fisch = 0,5 Gold", dann überlegen, wieviel Verbesserung eine Aktion bringen soll, und daraus dann Karten wie "tausche 1 Holz gegen 2 Fische" ableiten. Damit kann man dann vermutlich die ersten paar Iterationen des Testens einsparen bzw. beschleunigen. Manchmal kriegt man das "hintenrum" mit über Strategieartikel wie diesen hier zu Terraforming Mars , der quasi "reverse engineering" betreibt. (ACHTUNG: Wer Terraforming Mars selbst entdecken will, bitte nicht anklicken!). Die Wertigkeiten passen da so gut, dass das gewiss kein Zufall ist. Genau diese Berechnungen dürften die Autoren vorher beim Entwurf des Spiels gemacht haben.
Es kann ja nicht so sein, dass erstmal das Spiel irgendwie entworfen wird und dann ALLEINE übers Testing geguckt wird, was geht und was nachgebessert werden muss.
Doch. Nach den meisten "Designer Diaries", die man lesen kann, läuft das ganz exakt so. Try & Error in Endlosschleife.