Beiträge von MetalPirate im Thema „Wie entwickelt man bitte ein Spiel??“

    Das Jahr hat 365 Tage x 3 sind 1095 Tage. Selbst wenn ein Autor also nur alle 3 Tage mal an seinem Spiel bastelt (was ich schon ne recht merkwürdige Arbeitseinstellung fände, wenn ich selber was erfinde, weil normalerweise macht man sowas ja aus Spaß an der Freude und dann verbringt man jede freie Minute damit), sind das schon 365 Partien.

    Übersiehst du vielleicht, dass die allermeisten Autoren das nicht hauptberuflich, sondern als Nebenbei-Hobby betreiben? Oder dass in der Zeit, in der man nicht arbeitet, erstmal Lebenspartner, Familie, Freunde und diverses andere höhere Priorität haben als das Feilen an irgendwelchen verrückten Ideen, von denen ein großer Teil am Ende im Papierkorb landen?


    (Ich selbst brüte seit längeren an ein paar Spielideen, aber das läuft alles mit extrem niedriger Priorität nebenbei und teilweise passiert da monatelang gar nichts, bis mal wieder irgendwelche Ideen hochkommen. Selbst bei den Forumsmitgliedern und -lesern, die schon erfolgreich Spiele veröffentlicht haben, dürfte das jetzt nicht völlig anders sein. An Hobby Nummer 1 = Spieleerfinden glaube ich nicht, wenn man Familie hat.)

    Es bringt Spannung ins Spiel, wenn beispielsweise gewisse Karten (oder Plättchen oder ähnlich) "besser" sind als andere und man darauf hinfiebert.

    Je nach Mechanismus müssen solche Sachen sogar unterschiedlich stark sein. Ich bin ein großer Fan komplett variabler Spielerreihenfolgen. Also nicht nur variabler Startspieler und dann im Uhrzeigersinn weiter, sondern wirklich jede Position variabel. Ich mag Spiele, wo man sich durch Spielaktionen in der Reihenfolge nach vorne arbeiten kann. Das ergibt konzeptionell nur dann überhaupt einen Sinn, wenn es sich lohnt, früh dran zu sein, weil die zur Verfügung stehenden Aktionen (oder Karten oder Plättchen) unterschiedlich attraktiv sind.

    jede Spielsituation (von denen ja je nach Spiel Millioooonen vorkommen können *vermutlichübertreib*)

    Nicht übertrieben. In den Millionbereich kommt man schon nach wenigen Zügen und selbst bei zufallsfreien Spielen kommt man locker noch ein paar Potenzen höher. Beispiel Go: Spieler 1 platziert seinen Spielstein auf einem beliebigen Kreuzungpunkt einen 19x19 Gitters. 19 mal 19 = 361 Möglichkeiten. Spieler 2 hat dann noch 360 freie Felder zur Verfügung. Schon nachdem jeder nur einen einzigen Stein gesetzt hat, hat man schon rund 130000 mögliche Zustände. Aus Symmetriegründen fallen einige raus, die man nicht betrachten muss, aber das Beispiel sollte zeigen, dass man sehr schnell in den Millionenbereich kommt.


    Hat man Zufallselemente dabei, geht's noch schneller. Beispiel: jeder Spieler würfelt am Beginn jeder Runde 3 D6-Würfel (-> Bora Bora). Nach Ordnen der Würfelwerte in aufsteigender Reihenfolge hat jeder 56 mögliche Würfelergebnisse (mit unterschiedlicher Auftretenswahrscheinlichkeit). Bei vier Spielern bist du da bei 56*56*56*56 = knapp 10 Millionen Zuständen (wieder: modulo Symmetrie), und da hat noch kein Spieler einen einzigen Zug gemacht. Deshalb tut sich eine Computer-AI (wie Alpha Go) auch mit deterministischen 2er-Spielen wie Schach oder Go auch deutlich leichter als mit Spielen, die Zufallselemente enthalten.


    Gerade bei engine building mechanics stelle ich mir das gefährlich vor, wenn Karten sich Zb gegenseitig beeinflussen und dann eine Kombo vielleicht DEN universellen Vorteil bringen könnte.

    Es gibt mathematische Verfahren, die Stabilität eines Systems abzuschätzen bzw. obere Limits anzugeben. Richtig ist: Engine Building strebt nach exponentiellem Wachstum und das gilt es irgendwie zu dämpfen. Nicht nur wegen Stabilität, in dem Sinne, dass irgendwas übermächtig wird, sondern mehr noch wegen "runaway leader"-Problem, d.h. zu schnell vorentschiedenem Spiel, was man bei Engine Building auch ohne übermächtige Kombo leicht bekommt.


    Terraforming Mars löst das z.B. so, indem das exponentielle Wachstum von einem starken linearen Term überlagert wird: Einkommen = Terraforming-Punkte, und auf der Terraforming-Skala startet man nicht bei 0, sondern bei 20. Ganz wesentlich. Dadurch ist der Einkommensunterschied zwischen Spieler A und Spieler B nach ein paar Runden eben nicht 7:3 (das wäre mehr als doppelt so viel), sondern nur 27:23, womit eben trotz deutlich unterschiedlich gutem Start noch keine Vorentscheidung gefallen ist.


    Grundsätzlich glaube ich, dass die wirklich guten Spiele ab Kennerspielniveau sowohl ausreichend menschliches Testen als auch gründliche mathematische Analyse brauchen. Wenn eines der beiden fehlt, ist die Gefahr, Schwachstellen übersehen zu haben, immer groß. Dafür sind die modernen Euro-Spiele zu komplex geworden.

    Außerdem darf ein Spiel m.E. nicht zu 100% austariert sein, sonst wird es schnell langweilig.

    Kannst du das bitte näher erklären? Bei "es darf nicht egal sein, was man macht" wäre ich noch bei dir, Beliebigkeit darf nicht reinkommen, aber unter "austariert" verstehe ich etwas anderes. Nicht austariert wäre für mich, wenn man ab dem dritten oder fünften Spiel merkt, dass der strategische Weg C in 80% der Fälle besser ist als die Wege A, B, D oder E, auch wenn das das vielleicht am Anfang anders angefühlt hat. Sowas möchte ich eigentlich nicht haben.

    Oder man "trickst" und baut Mechaniken ein, die an sich Balancing bringen - z.B. Drafts oder Bietmechaniken etc.

    ...aber bitte nur sehr selektiv, sonst ergibt das Spiele, in denen der Spielanfänger keine Ahnung mehr hat, was er tun soll, z.B. wieviel Geld er für irgendeine Aktie bei einer Auktion zu Spielbeginn bieten soll. Alle Biet- und Auktionsmechanismen erfüllen ihren vorgesehenen Zweck der automatischen Balancierung nur, wenn die Spieler in der Lage sind, den Wert einer Sache korrekt einzuschätzen.


    Zuerst vorneweg: Wirklich beantworten kann dir das nur ein Spieleautor, und in wie weit der über seine "Betriebsgeheimnisse" zu reden bereit ist, ist natürlich immer fraglich. Ich lese allerdings gerne mal "Designer Diaries", Autorentagebücher, auf BGG und da kriegt man schon so einiges mit. Deshalb mal eine persönlich gefärbte Antwort eines interessierten Beobachters.


    Ist jeder Spieleentwickler ein Mathematiker

    Nein. Es gibt zwar einige, die einen Hintergrund in einem MINT-Beruf(*) haben (z.B. Stefan Feld oder Reiner Knizia), vielleicht sind solche Leute auch überproportional vertreten, aber bei genügend anderen Autoren, deren Beruf bekannt ist, ist das nicht der Fall. Da gibt's die komplette Vielfalt an allen denkbaren Berufen.


    (*): Mathematik / Informatik / Naturwissenschaften / Technik


    Wird jedes Brettspiel digitalisiert, um dem Computer die Balancingproblematik zu übergeben?

    Ganz sicher nicht. Ich lese ganz gerne mal "Designer Diaries" auf BGG, aber ich weiß konkret nur von einem einzigen Spiel, das mit Computerhilfe und intensivsten Simulationen gebalanced wurde (nämlich Sidereal Confluence).


    (Persönliche Meinung: wenn manche Autoren/Verlage wenigstens ein bisschen mehr Ahnung von Systemtheorie oder mathematische Modellierung hätten, oder auch von den mathematischen Hintergründen der Spieltheorie, gäbe es so manche wirklich schrottige Balance bzw. schlechte Anpassung auf unterschiedliche Spielerzahlen nicht. In dem Bereich ist noch deutlich Luft für eine Professionalisierung der Spieleentwicklung. Wobei man natürlich nicht zuviel erwarten darf. Fast alle Spieleautoren machen das hobbymäßig und bei den guten Verlagen gibt's dann Redakteure, die allein schon aufgrund ihrer Erfahrung das meiste, was aus dem Ruder laufen könnte, wieder geradebiegen. Das ist dann auch der Grund, warum mir der Verlag hinter einem Spiel nach mehr als zwei Jahrzehnten Spielerfahrung mittlerweile mindestens genauso wichtig ist wie der Autor.)


    Wie schafft man es, dass alle Mechaniken reibungslos ineinandergreifen [...]

    Klassischerweise: Playtesting, immer wieder, hundertfach. Am besten mit erfahrenen Testspielergruppen, die einem wertvolles Feedback geben. Wobei ich durchaus der Meinung bin, dass man mit geschicktem Einsatz des Computers da einen gewissen Faktor an Entwicklungszeit einsparen könnte.

    (Allerdings müsste man dabei auch aufpassen: perfekte Balance ist nicht alles. Spielspaß kann der Computer nicht bewerten! Oft ist's für ein Spiel besser, dem Spieler lieber Spaß machende Sachen zu erlauben, als sie im Namen der Balance zu opfern.)


    Bei den Autoren mit MINT-Background gehe ich davon aus, dass die als Design-Grundlage Wertetabellen haben, z.B. "1 Holz = 1,5 Fisch = 0,5 Gold", dann überlegen, wieviel Verbesserung eine Aktion bringen soll, und daraus dann Karten wie "tausche 1 Holz gegen 2 Fische" ableiten. Damit kann man dann vermutlich die ersten paar Iterationen des Testens einsparen bzw. beschleunigen. Manchmal kriegt man das "hintenrum" mit über Strategieartikel wie diesen hier zu Terraforming Mars , der quasi "reverse engineering" betreibt. (ACHTUNG: Wer Terraforming Mars selbst entdecken will, bitte nicht anklicken!). Die Wertigkeiten passen da so gut, dass das gewiss kein Zufall ist. Genau diese Berechnungen dürften die Autoren vorher beim Entwurf des Spiels gemacht haben.



    Es kann ja nicht so sein, dass erstmal das Spiel irgendwie entworfen wird und dann ALLEINE übers Testing geguckt wird, was geht und was nachgebessert werden muss.

    Doch. Nach den meisten "Designer Diaries", die man lesen kann, läuft das ganz exakt so. Try & Error in Endlosschleife.