Beiträge von LemuelG im Thema „Wo bleiben eigentlich...“

    @MetalPirate Ich streite ja gar nicht ab, dass viele neue Spiele ihre Innovationen aus einer Zusammensetzung von Sonderregeln erhalten. Alles was ich sage, ist, dass auch heute noch elegante Lösungen gefunden werden, die mit regeltechnisch im Grundprinzip ganz einfachen Vorgaben (!) den von Dir wunderbar aufgeschlüsselten Aktionswahloptionen doch noch ungewohnte und reizvolle Seiten abgewinnen (auch wenn das Spiel in seiner Gesamtheit durch weniger elegante Lösungen in anderen Bereichen dann vielleicht doch arg viele Detailregeln enthält).

    Als Beispiele seien hier nur der Zahnradmechanismus von Tzol'kin (Arbeiter lange eingesetzt lassen bringt stärkere Aktion) und der Würfel-Konkurrenz-Mechanismus von Bora Bora (hohe Würfel bringen bessere Aktionen, niedrige Würfel verhindern aber das Einsetzen hoher Würfel) genannt.

    In den letzten 10-20 Jahren haben sich Brettspiele einfach enorm weiterentwickelt. Von den Mechanismen, die gleichzeitig einfach und doch "spielerisch wertvoll" sind, dürfte es nicht mehr viel Unentdecktes geben. Wer in einen entsprechend weit entwickelten Gebiet noch etwas Innovatives bringen will, landet zunehmend bei Detailverbesserungen, die keinen neuen Mechanismus begründen, oder bei immer komplexeren und komplizierten Regeln -- und das ist dann verständlicherweise recht schnell nicht mehr jedermanns Sache.

    Die Innovationen gibt's durchaus. Allerdings eben vorwiegend in der Nischen-Ecke, mehr oder weniger weit weg von Massenmarkt, Einsteiger-Kompatibilität oder allgemeiner Sichtbarkeit selbst innerhalb der "Szene". Ist in anderen Bereichen (z.B. Musik) nicht viel anders. Auch da ist dann die hunderste AC/DC-Coverband für den "Normalnutzer" idR interessanter als die Technical Death Metal Band mit hohem künstlerisch-musikalischem Anspruch. Dass in einer solchen Situation diejenigen, die damit ihren Lebensunterhalt bestreiten, im Zweifelsfalle auch lieber Bewährtes wiederkäuen als potenziell Ungenießbares zu produzieren, sollte auch nicht überraschen.


    Gerade in den Wissenschaften ist schon häufiger von den Vertretern des Status quo proklamiert worden, dass es nichts mehr zu entdecken bzw. erfinden gäbe. Diese Aussagen sind dann zumeist sehr bald von der Realität überholt worden. Warum sollte das in unserem Segment anders sein? Dass man sich einen neuen Mechanismus nicht vorstellen kann, heißt nicht, dass es ihn nicht geben kann.

    Täuscht mich übrigens der Eindruck, dass gerade im Bereich der Kinderspiele viel mutiger innoviert wird? Da werden Konzepte wie Magnetismus, Reflexion oder Licht und Schatten aktiv in Spielprinzipien überführt, während im Bereich der Erwachsenenspiele letztlich doch nur wieder alles auf Plättchen, Karten und Meeple hinausläuft. Wer weiß, vielleicht wächst so eine neue Generation mit vielen Spielern und ein paar Autoren heran, die auch einmal "out of the box" denken.

    Vielleicht ist es zielführender, wenn man mal versucht, die möglichen Felder, in denen Innovationen vorkommen können, zu kategorisieren - dann fällt es möglicherweise auch leichter, tatsächliche Innovationen zu identifizieren. Wobei man sich gerade im Prozessbereich vor Augen halten muss, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen "new to the world", "new to the industry" und "new to the firm" gibt. Folgendes ist mir eingefallen oder wurde weiter oben schon genannt (keine Garantie für Vollständigkeit und Ergänzungen gerade auch der Kategorien ausdrücklich erwünscht):

    Prozessinnovationen

    Produktinnovationen

    • Spielprinzipien
      • Themenbasierte Mechanismusableitung
        • Zeitlimitierung und elektronische Vorgaben (z.B. Space Alert)
      • Kooperation der Spieler (z.B. Pandemie)
      • Geräuschbasierung (z.B. Mord im Arosa)
      • Solovarianten (z.B. Agricola) und Solospiele (z.B. Freitag)
    • Mechanismen zur Umsetzung des Spielprinzips
      • Punktewertung (z.B. Kramerleiste)
      • Ressourcenverwaltung (z.B. Rosenbergsches Ressourcenrad)
    • Artwork/Design
      • Mehrfachfunktion von Karten je nach Positionierung (z.B. Ruhm für Rom)
      • modellierte Miniaturen bei Eurogames (z.B. Fragor-Spiele)


    OK, mehr fällt mir aus dem Stand nicht ein (was auch daran liegen könnte, dass ich einige der im Thread genannten Spiele noch nicht kenne).


    Bitte genauer lesen: ich sprach von Kino_filmen_, nicht vom Kino! Die ganzen technischen Entwicklungen haben den Kinofilm als solches m.E. kein Stück "besser" oder "innovativer" gemacht. Vielmehr erscheint mir so, dass mit diesen technischen Gimmicks vom eigentlichen Film und der (oftmals fehlenden oder zumindest krankenden) dahinterliegenden Geschichte abgelenkt wird. Gleiches gilt für mich beim übermäßigen Einsatz von Computer-Effekten, wilden Schnittfolgen oder "Wackelbildern" mit Handkameras...

    Ciao
    Stefan


    Stefan, da gibt es nun aber in aller Offenheit solche und solche. Ein Geniestreich wie "Gravity" nutzt eben dieses 3D und diese Computer-Effekte, um eine Geschichte zu erzählen, die auf andere Weise nicht überzeugend erzählt werden könnte. "Der Herr der Ringe" hat es mit dem Motion Capture-Verfahren und eben computergenerierten Effekten geschafft, das Wesen Gollum glaubhaft zu machen. Die Bourne-Filme haben mit ihren schnellen Schnitten den Actionfilm revolutioniert. Und so weiter und so fort. Dass es für jede überaus gelungene innovative Nutzung neuer Technologien auch katastrophale Fälle gibt, wo unfähige Regisseure und geldgierige Studios mit zusammengewürfelten Drehbüchern aufs Publikum losgelassen werden, ist nun keine Eigenheit der Filmbranche. Aber das macht die innovativen Entwicklungen kein bisschen weniger toll.

    Also eher Evolution statt Revolution?


    Definitiv ja. Aber wie ich mit meinem weiter oben angehängten Theoriebeitrag zeigen wollte, gibt es ja noch so einiges an möglichen Zwischenstufen.

    Ich meine, das sieht man in anderen Bereichen doch auch. Wer besitzt denn schon ein radikal innovatives reines Elektroauto? Im Vergleich sind schon recht viele Hybride unterwegs, die den neuen Elektroantrieb und den etablierten Verbrennungsmotor kombinieren. Aber die allermeisten Leute fahren weiter mit Verbrennungsmotor, wo die neuen Motorgenerationen durch evolutionäre (schrittweise) Innovationen sparsamer und schadstoffärmer werden.


    Wie kann man Innovationen überhaupt fordern?

    M.E. sind Innovationen sowas wie Erfindungen.
    Die kann man nicht einplanen, erarbeiten oder fordern, sondern dafür braucht's doch erst mal ein paar kreative Klicks, ein paar Erleuchtungen, ein paar Ideen jenseits des Zauns - erst wenn die mal da sind, kann man anfangen, an Innovationen zu arbeiten. Das ist im Spielbereich sicherlich nicht anders als überall ...


    Erfindungen sind Inventionen ... erst wenn diese auch vermarktet werden und sich durchsetzen bzw. Erfolg haben, spricht man strenggenommen von Innovationen. (Dass der Begriff im alltäglichen Sprachgebrauch so aber nicht verwendet wird, ist eher ein typisches Merkmal unserer Medienkultur.)

    Ich glaube nicht, dass sehr radikale Veränderungen im großen Stil eine Chance haben, auf dem Markt akzeptiert zu werden. Dafür ist das dann zu fremdartig im Vergleich zum Gewohnten. Kleinere Neuheiten (wie etwa die Zahnräder in Tzol'kin, das Rosenbergsche Ressourcenverwaltungsrad oder seinerzeit die Kramerleiste) werden dann aber doch oft wieder aufgegriffen - vom selben Autor und teilweise weit darüber hinaus. Erinnert Ihr Euch noch, wie Pandemie eine Flut von kooperativen Spielen auslöste (auch wenn Pandemie sicher nicht das erste kooperative Spiel war [Invention], war es doch so ziemlich das erste mit großem Markterfolg [Innovation] und vielen Folgern)?! Oder Dominion eine Flut von Deckbauspielen?!

    Mir ist der Innovationsbegriff in dieser Form viel zu undifferenziert. Es gibt halt nicht einfach nur "die" Innovation, sondern viele verschiedene Formen und Ausprägungen. Einiges davon (inkrementelle Verbesserungen, wie die elegantere Umsetzung eines Mechanismus) sieht man durchaus, nur eben wenig wirklich radikale Innovation, die aber auch wesentlich riskanter ist, da sie den Gewohnheiten der Nutzer entgegenläuft und daher viel wahrscheinlicher am Markt scheitern wird.

    Ich habe als Denkanstoß mal ein paar Folien aus einer von mir gehaltenen Lehrveranstaltung von vor ein paar Jahren drangehängt. Hatte mich schon in meiner Diplomarbeit intensiv mit dem Thema Innovation (natürlich nicht bezogen auf Brettspiele, sondern auf Technologien, aber da gibt es durchaus auch Gemeinsamkeiten) beschäftigt. Einige der in der Diskussion aufgekommenen Punkte erkennt man dabei auch in der Theorie wieder.