Beiträge von MetalPirate im Thema „Wo bleiben eigentlich...“

    fjelfras: Mir ist auch schon Zoch als innovativ bzw. mutig bei der Umsetzung ungewöhnlicher Ideen aufgefallen. Das sage ich als jemand, der sich im Spielebereich eigentlich nur dort auskennt, wo's an Denksport grenzt. :) Aber gerade in diesem "Denksport-Bereich" sind meiner Meinung nach leider auch arg viele Spieler unterwegs, die nicht allzu aufgeschlossen für Neuerungen sind. Das geht ja soweit, dass von manchen jeglicher Würfel-Einsatz verteufelt wird, weil ein reinrassiges Strategiespiel keinerlei Glückselemente haben dürfe. (Was ich für Unfug halte!)

    Jeder kennt doch die Spieler-Fraktion, die gerne Spiele als "zu wenig strategisch, viel zu taktisch" kritisiert -- idR sind das Leute, die zwar hochkomplexe Optimierungsaufgaben lösen können, es aber partout nicht schaffen, sich auf (weitgehend) unvorhersehbare Wendungen einzustellen, die ein Spiel (bzw. die lieben Mitspieler) einem entgegen werfen. Sie schaffen die gestellte Aufgabe nicht, also wird das Spieldesign dafür kritisiert. Solche Personen sind in aller Regel auch nicht allzu aufgeschlossen für Innovationen im Spieldesign.


    LemuelG: Volle Zustimmung. Tzolk'in und Bora Bora habe ich beide und mag ich beide, wobei Bora Bora für meine Liebste schon ein Stück zu kompliziert ist und ganz so fummelig im Aufbau hätte es auch nicht sein müssen. Wobei ich bei beiden den innovativen Anteil ein bisschen verschieden sehe. Tzolk'in bietet eine elegante mechanische Lösung dafür, dass man sonst alle Arbeiter einzeln auf einer Zeitleiste ein Feld weiter schieben müsste. Der Mechanismus wäre auch vorher möglich gewesen, aber nicht besonders praktikabel.

    Bora Bora ist ein früher Vertreter für einen Trend, den wir nach meiner Prognose in nächster Zeit noch öfter sehen werden, nämlich Aktionsauswahl / "worker placement" mit unterschiedlichen Typen von Arbeitern. Im Falle von Bora Bora oder Alien Frontiers sind's Würfel von 1 bis 6. Die Viticulture-Erweiterung kommt mit 10 Sonder-Meeples (von denen 2 zufällige Typen ins Spiel kommen). Keyflower hat drei Worker-Farben. Und einer der ersten Vertreter war Village. Da wird zwar kein Arbeiter eingesetzt, sondern ein Würfelchen in einer von vier Farben weggenommen, aber funktional ist es ganz genauso Aktionsauswahl mit zusätzlicher Zuordnung des Zuges zu einen Element einer Gruppe (Farbe, Augenzahl, etc.) und darauf aufgesetzten weiteren Regeln. Diese Ecke des Spieldesigns sind noch nicht komplett ausgelutscht, da werden wir noch mehr von sehen. Aber auch da bringen Sonderregeln aufgrund von Farbe oder Augenzahl zwangsweise wieder zusätzliche Komplexität rein. Hast du schon mal versucht, einem Gelegenheitsspieler, der Standard-Worker-Placement nicht kennt, Bora Bora zu erklären? :S

    Gerade in den Wissenschaften ist schon häufiger von den Vertretern des Status quo proklamiert worden, dass es nichts mehr zu entdecken bzw. erfinden gäbe. Diese Aussagen sind dann zumeist sehr bald von der Realität überholt worden. Warum sollte das in unserem Segment anders sein?


    Langsam, langsam. Ich habe nicht geschrieben "insgesamt schon alles erfunden", sondern "im Bereich der einfach umsetzbaren Sachen schon weitgehend alles abgegrast, was möglich ist; Innovation vorwiegend in Nischen für Freaks". Das ist ein fundamentaler Unterschied.

    Um deinen Wissenschschaftsvergleich aufzugreifen: Die Erkenntnisse eines Galileo Galilei zur physikalischen Beschreibung von freiem Fall kann ich jedem erklären. Moderne Erkenntnisse zur Superstring-Theorie oder Quanten-Chromo-Dynamik sind sicherlich nicht weniger innovativ, spielen sich aber auf einem Niveau ab, wo nur noch Experten mitreden können. Jeder Bereich entwickelt sich so weiter, dass Innovationen für den Normalsterblichen zunehmend unverständlich werden. Meine These ist, dass das auch im Spielebereich immer deutlicher wird.

    Nehmen wir das Spiele-Grundelement "Zug eines Spielers". Fordert irgendeine Art Einsatz, um irgendeinen Nutzen abzuwerfen. Da haben wir in den letzten ~15 Jahren erlebt, wie ein Zug attraktiver gemacht wurden, indem das Verhältnis zwischen Nutzen und Kosten modifiziert wurde. (Das ist natürlich direkt verbunden mit dem "action selection"-Mechanismus, oft auch "worker placement" genannt, was mir aber nicht so gefällt, weil "worker placement" doch ein rein thematischer Begriff ist.) Möglichkeit 1: Kosten senken. Populär gemacht von "St. Petersburg" (2004), wo Kartenreihen runterrutschen und so billiger zu kaufen werden. Mittlerweile in Form einer seitlich verrutschenden Kartenreihe Standard in jedem 3. neuen Euro-Spiel (Lewis & Clark, Nations, Concordia, Bruxelles 1983 -- 4 meiner 11 Käufe von Spielen aus 2013). Möglichkeit 2: Nutzen erhöhen. Populär gemacht von "Agricola" (2007) mit den Rosenberg'schen Anhäufungsfeldern. Mit den beiden Möglichkeiten "Kosten senken" und "Nutzen erhöhen" ist dann bereits alles durch, was man machen kann, um das Kosten/Nutzen-Verhältnis zu modifizieren.

    Also geht's weiter mit der Einführung von Sonder- und Zusatzregeln. Auswahl eines Zuges blockt die Aktion für andere (Caylus, Agricola -- das klassische "worker placement"). Moderne Inkarnationen: Auswahl eines Zuges blockt nicht komplett, sondern macht für andere die gleiche Aktion in der einen oder anderen Form unattraktiver: mehr Ressourcen (Zugoptionen/Geld/sonstiges) nötig. Macht alles unvermeidlich komplizierter. Andere Innovationsmöglichkeit ist, "action selection" mit anderen Mechanismen (z.B. Auktionen, "set collection", "area control", etc) zu kombinieren (aktueller Extremfall des Mechanismen-Mischens: Bruxelles 1983; ein Urvater dieser Richtung: Goa). Auch das wird unweigerlich immer komplizierter. In diesem Zustand ist "action selection" / "worker placement" aktuell: alles Wesentliche ist schon mehrfach gesagt worden, Neuartiges ("Innovationen") sind oft superkomplexe Sonderregeln und Mechanismen-Mischmasch aus der Vielspieler-Ecke (neben bereits genannten Sachen z.B. Vinhos oder Madeira).

    Fazit: Innovation bei den Spielmechanismen, ja, gibt es noch, aber oft um den Preis einer ziemlichen Abgehobenheit für den Normalspieler. Wenn Innovation heißt, dass bekannte Mechanismen mit einem Dutzend Sonderregeln verkompliziert werden, will man das immer haben?

    In den letzten 10-20 Jahren haben sich Brettspiele einfach enorm weiterentwickelt. Von den Mechanismen, die gleichzeitig einfach und doch "spielerisch wertvoll" sind, dürfte es nicht mehr viel Unentdecktes geben. Wer in einen entsprechend weit entwickelten Gebiet noch etwas Innovatives bringen will, landet zunehmend bei Detailverbesserungen, die keinen neuen Mechanismus begründen, oder bei immer komplexeren und komplizierten Regeln -- und das ist dann verständlicherweise recht schnell nicht mehr jedermanns Sache.

    Die Innovationen gibt's durchaus. Allerdings eben vorwiegend in der Nischen-Ecke, mehr oder weniger weit weg von Massenmarkt, Einsteiger-Kompatibilität oder allgemeiner Sichtbarkeit selbst innerhalb der "Szene". Ist in anderen Bereichen (z.B. Musik) nicht viel anders. Auch da ist dann die hunderste AC/DC-Coverband für den "Normalnutzer" idR interessanter als die Technical Death Metal Band mit hohem künstlerisch-musikalischem Anspruch. Dass in einer solchen Situation diejenigen, die damit ihren Lebensunterhalt bestreiten, im Zweifelsfalle auch lieber Bewährtes wiederkäuen als potenziell Ungenießbares zu produzieren, sollte auch nicht überraschen.