Ein Blick in die Filmgeschichte - alles Wissenswerte zum Film

  • .. es geht letztlich nur darum, dass ich Top Ten Filme nicht weiter vollspamme. Den Threadtitel können wir sicher nochmal sinnvoller gestalten (z.B. "Ein Blick in die Filmgeschichte", oder "Film allgemein"? ) Klaus_Knechtskern magst Du das anpassen? Es sollen ja auch alle anderen was schreiben.

  • Also, kurz zum Einstieg: Filme sind kulturelle Texte. Kulturell, weil sie nicht nur in einer bestimmten Zeit entstehen, in einem bestimmten sozialen Umfeld, sie werden auch in dieser Zeit und Umfeld gesehen und können so massiven Einfluss auf die Kultur nehmen (früher sicher mehr als heute, wo andere Massenmedien sicherlich als einflussreicher gelten dürften). Es gibt in einer Einführung, deren Namen ich leider vergessen habe, ein schönes Bild dafür, das eines Donuts in einem Weltall der Kultur. Filme sind umgeben und durchdrungen von Kultur, werden von ihr geformt. Oft haben sie einen minimalen Einfluss und sind dann schnell wieder vergessen, dann sind sie immer noch interessante Zeugen der Zeit und Kultur in der sie entstanden sind. Manche Filmdonuts stoßen aber wie Meteoriten mit brachialer Gewalt auf andere kulturelle Kontexte, können diese verändern, umformen. Wie lange das so bleibt, ist dann die zweite Frage, also ob es einen "Kanon" gibt von Filmen oder ob Film mehr noch als Literatur dazu verdammt ist in Vergessenheit zu geraten. Das hat viel mit Aufführungsbedingungen zu tun und gehört nur begrenzt hier hin.


    Wenn wir jetzt noch "Kultur" nicht im musealen, künstlerischen Sinne verstehen, sondern alle Äußerungen menschlicher Provenienz als dechiffrierbaren "Text" sehen, den man untersuchen, lesen, sehen, hören, verstehen (oder eben auch nicht) kann, der Ausdruck seiner Zeit ist und dann auch wieder beim Leser/Hörer/Zuschauer eine Reaktion hervorbringen will, dann ist es eigentlich klar, dass die Ausgangsfrage nach dem "Einfluss der politischen/kulturellen/gesellschaftlichen Lage auf den Film" keine Frage ist, sondern quasi grundlegende Definition aller Massenmedien. Sie sind Ausdruck ihrer Zeit und nehmen dann auch wiederum Einfluss auf diese Zeit. Wie sich das dann beim Neorealismo verhält, und was das überhaupt sein soll, dazu später mehr.

  • Klaus_Knechtskern

    Hat den Titel des Themas von „Proseminar Film von und mit Dr. Film“ zu „Ein Blick in die Filmgeschichte - alles wissenswerte zum Film“ geändert.
  • Ich habe da gerade schon etwas mehr zu Kill Bill lesen dürfen und war schlichtweg begeistert von den Erkenntnissen und stellte fest, dass ich praktisch null Ahnung habe 8|

    Ich gebe hier, auch wenn ich es im Text nicht explizit erwähne, immer meine persönliche Meinung wieder.

  • Klaus_Knechtskern

    Hat den Titel des Themas von „Ein Blick in die Filmgeschichte - alles wissenswerte zum Film“ zu „Ein Blick in die Filmgeschichte - alles Wissenswerte zum Film“ geändert.
  • Ich weiß jetzt nicht, ob es hier um ein ganz bestimmtes Thema gehen soll, aber wenn es nur allgemein um die kulturellen Einflüsse etc. im Film geht, dann kann ich sehr die YT-Kanäle

    Pop Culture Detective https://youtube.com/c/PopCultureDetective

    und

    The Take

    https://youtube.com/c/thetake

    empfehlen.


    Hab bestimmt noch mehr in den Abos, aber die gefallen mir sehr gut und sprechen auch Themen an, die mir so noch nicht untergekommen sind (zB die höchst problematische Darstellung von Romantik und Liebe in den meisten Filmen)

  • Pardon, ich habs nicht vergessen, aber ich wollte auf den Wunsch eines einzelnen Herrn noch ein paar Fotos einhängen, und das gestaltet sich gerade als etwas schwieriger die zu besorgen (alte Dateien, irgendwo auf Backups verteilt etc.) Daher bitte ich noch um etwas Geduld.

  • Also, ich interpretiere Elektro s Ausgangsfrage im Folgenden jetzt so, dass es nicht darum geht, ob es gesellschaftliche, politische und kulturelle Einflüsse auf Film (und andersrum Einfluss von Filmen auf die Kultur) gibt. Wie oben bereits geklärt, existieren Filme nicht im luftleeren Raum, sondern sind von den "Diskursen" geprägt, die um sie herum existieren (im kulturwissenschaftlichen Sinn meint Diskurs quasi die Gesamtheit aller schriftlichen, mündlichen, medialen etc. Äußerungen zu einem Thema). Damit kann man wohl davon ausgehen, dass aktuelle historische Ereignisse, politische Entwicklungen und Einstellungen immer auch Einfluss auf die Entwicklung der Filmgeschichte nehmen.


    Filmgeschichte kann man ganz gut über einzelne Regisseure, über Filmnationen, auch über Genres beschreiben. Nimmt man basale Prämissen zum Ausgangspunkt, so könnte eine sein, ob es bei Film um die Darstellung einer "äußeren Wirklichkeit" geht. Also: Ist Film ein abbildendes Medium, das die Wirklichkeit darstellen will, das z.B. soziale Mißstände in der Wirklichkeit besser aufzeigen kann, weil es die Lebensverhältnisse der Menschen abbilden kann? Frühe Filmtheoretiker wie Rudolf Arnheim und Siegfried Kracauer sahen Film gerade durch die Reduktion der Mittel (Stummfilm, schwarz/weiß etc.) als besonders geeignet, die historische Wirklichkeit widerzuspiegeln. In Kracauers "Von Caligari zu Hitler" versucht der Autor eine soziologische Linie von der Weimarer Republik zur Nazizeit zu ziehen, und will zeigen, wie sich dies in den Filmen der Zeit abbildet (mit warnenden, aber auch euphorisch-vorantreibenden Beispielen). Arnheim hingegen - das nur als Randnotiz - war von der Entwicklung des Films hin zum Ton- und Farbfilm so enttäuscht, dass der nach den 1940ern nichts mehr zu diesem Medium veröffentlichte, da diese Elemente in seinen Augen von der "Abbildung und Fokussierung der Realität" nur ablenkten.

    Auf der anderen Seite der frühen Filmgeschichte standen die Theoretiker, die den Film gerade als Überhöhung der Wirklichkeit sahen, die den Abbildcharakter grundlegend in Frage stellten und dabei gerade filmische Mittel wie den Schnitt und Kameraperspektiven, die der Wirklichkeit nicht zur Verfügung stünden, in den Vordergrund stellten. So etwa Sergej Eisenstein, dessen Montagetheorie den frühen Stummfilm maßgeblich mitgeprägt hat. Bedeutung entsteht bei Eisenstein nicht durch Abbild, sondern durch den Kontrast zweier zunächst widersprüchlicher Bilder. So zeigt uns sein Panzerkreuzer Potemkin zuerst die hungernden Matrosen, dann die Ratten in der Speisekammer - mit der Pointe, dass es den Soldaten effektiv schlechter ergeht, was ja letztlich zur Revolte führt. Diese Kontrastmontage ist eines von mehreren Mitteln, mit denen laut Eisenstein Film erst zu einem eigenständigen Medium wird.


    Wenn man so will, gab es also - und das lässt sich bis hin zu Dogme '95 und aktuellen Kunsttraditionen im Filmbereich fortsetzen - immer das Spannungsverhältnis zwischen "Realisten" und "Formalisten". Wie der Name schon sagt, bewegt sich der Neorealismo, um den es im Folgenden gehen soll, klar in Richtung "Realismus", also Abbildung der sozialen Wirklichkeit der gezeigten Menschen.


    Als erster Beitrag zum Neorealismo (wie der Name schon sagt, in Italien entstanden) gilt gemeinhin Lucchino Viscontis "Ossessione". Geschildert wird darin das Leben einfacher Menschen auf dem Land,Grundlage des Films ist aber tatsächlich eine hardboiled novel: "Wenn der Postmann zweimal klingelt" von James M. Cain wird hier adaptiert, erzählt wird eine Amour Fou eines Herumtreibers, der mit der Frau eines Tankstellenbesitzers eine Affäre beginnt und diesen dann gemeinsam mit ihr umbringt. Stilistisch ist das Ganze fast schon dokumentarisch gehalten: Sehr kontrastreiche Schwarzweißfotographie, genannt Chiaroscuro (hell-dunkel) prägt die Bilder.

    Gezeigt werden keine glamourösen Stars, sondern "einfache Leute", hier noch von ungeschminkt spielenden Stars gespielt, später sind die Filme auch oft mit Laiendarstellern besetzt. Gedreht wird vor Ort, mit Direktton (der oft entsprechend ruppig klingt), auf den Straßen und zerfallenen Gebäuden. Ossessione wird von der Zensur des Mussolini-Regimes sofort verboten, die an einem solchen realistischen Abbild der italienischen Gesellschaft im Modus der Selbstverherrlichung natürlich kein Interesse hat. Der Stil scheint also zunächst zum Scheitern verurteilt.


    Wirkmächtig wird der Stil des Films dann aber unmittelbar nach Kriegsende: Neorealistische Filme sind für ein paar Jahre das beherrschende Genre des italienischen Kinos, von de Sicas "Fahrraddieben" bis hin zu Fellinis "La Strada", der gemeinhin als Schwanengesang auf die Bewegung gilt. Antonioni wird das Zitat zugeschrieben, dass es "In der Nachkriegszeit ein großes Bedürfnis nach Wahrheit" gegeben habe, und der Neorealismo es ermöglicht habe, "diese von jeder Straßenecke aus zu fotografieren". Im Mittelpunkt des Kinos stehen plötzlich keine heldenhaften Individuen, sondern die Zivilgesellschaft, gerade die Arbeiterklasse, und ihr eingeschränktes Leben.


    Die gesellschaftliche Wirklichkeit erzwingt offenbar im Italien eine drastische Änderung des Filmstils: Statt der in aufwändigen Kulissen gedrehten Bilder der Reichen und Schönen oder der vorher so erfolgreichen Pepli (Sandalenfilme mit heldenhaften Gestalten der Antike) sind es nun arme Menschen von der Straße, die in zerbombten Kulissen vor der Kamera stehen und in den Kinos von der Leinwand auf ein Publikum blicken, dass darin seine eigene Lebenswirklichkeit der Nachkriegszeit gespielt sieht. Es gibt aber auch Elemente, die wir aus unserer heutigen Sicht gerade nicht als besonders "realistisch" bewerten würden, so ist der Einsatz von Orchestermusik zumeist sehr stark darum bemüht, die Emotionen hochkochen zu lassen und die Traurigkeit der Szenen noch zu verstärken. Und sorgfältig vorbereitete Kamerafahrten auf Schienen scheinen dem Einfangen "natürlicher Verhältnisse" auch zu widersprechen. Zentral ist hier also auch das Erzeugen einer sehr hohen emotionalen Beteiligung der Zuschauer. Hier als Beispiel das Ende von Fahrraddiebe: Nachdem ihm sein eigenes Fahrrad gestohlen wurde, greift der Familienvater zum letzten Mittel und wird selbst zum Dieb:


    Interessant ist, dass gerade die eifrigsten frühen Vertreter des Neorealismo diese Art Filme zu drehen auch relativ schnell wieder hinter sich lassen und zu üppig ausgestatteten Romanverfilmungen zurückkehren; es sind eher junge Filmemacher, die im Anschluss Neorealismo als Stil für sich entdecken und vorantreiben (u.a. Fellini und Pasolini). Diese Art von Einfluss greift aber auch außerhalb von Italien: Der Filmstil des Neorealismo scheint ein Gefühl der Ohnmacht und sozialen Zerrüttung, wie es nach dem zweiten Weltkrieg gerade in den Ländern, die vom Krieg besonders stark betroffen waren, besonders gut einfangen zu können. So gibt es direkt nach dem Krieg mit "Unter den Brücken", "Liebe 47" und einigen weiteren Filmen auch in Deutschland Filme, die in den Kriegstrümmern spielen und die sich mühelos dem Neorealismo stilistisch zuordnen lassen. Doch in Deutschland scheitert diese filmische Bewegung: Anders als in Italien will niemand triste Bilder aus dem Nachkriegsalltag sehen, und so sind es schnell wieder Heimatfilme, die die Kinokassen in Deutschland dominieren.


    Sprich: Neorealismo setzt sich in Zeiten und Kulturen durch, wo Menschen nicht nur die dazu nötigen gesellschaftlichen Verwerfungen erleiden, sondern auch dazu bereit sind, sich damit auseinander zu setzen. Will sagen: Filmstile müssen, wenn man so will, in den "Zeitgeist" passen, um national wie international erfolgreich zu sein, sie prägen aber natürlich auch diesen Zeitgeist, und das ebenso international. Hierzu kann man mit dem Begriff des Kulturtransfers arbeiten: Selbst in Ägypten und Indien findet man viele filmische Beispiele (Cairo Station von Youssef Chahine ist eine großartige Mischung aus Hitchcock-Thriller und neorealistischer Schilderung des Lebens am Hauptbahnhof, das bengalische Kino besteht in den 50er Jahren quasi nur aus neorealistischen Filmen und bringt mit der Apu-Trilogie gleich drei Filme hervor, die in den Top 10 der Filmgeschichte fest einbetoniert sind).

    (Cairo Station)

    (Apu)


    Auffallend ist, dass es immer wieder Länder im sozialen Umbruch sind, die die Stilmittel des Neorealismo adaptieren und sich aneignen. Etwas an diesem Stil scheint besonders gut geeignet, soziale Unruhe, Widerstand gegen Ungerechtigkeiten und Armut auf die Leinwand zu bringen. Die Dardenne-Brüder etwa, zwei belgische Filmemacher, die in den letzten Jahren mehrfach die großen Filmpreise abgeholt haben, sind nach wie vor sehr stark durch diesen Stil geprägt.


    Gleichzeitig haben wir ja oben schon gesehen, dass ausgerechnet der "Gründervater" Ossessione Verfilmung einer us-amerikanischen hardboiled novel ist, die wenige Jahre später auch als Film Noir in den USA verfilmt wird - und Chiaroscuro ist eben auch eine Filmtechnik, die für den Film Noir absolut prägend ist. Über diesen Zusammenhang dann später mehr.

  • Jetzt also noch kurz zum Film Noir: Gemeint sind damit historisch US-Kriminalfilme zwischen 1942 und 1958, in denen sehr viele der bis dahin geltenden Regeln des Hollywoodkinos geändert oder sogar gebrochen wurden. Die Helden sind zwielichtig oder gleich ganz Antihelden, die weibliche Protagonistin zumeist verrucht und als femme fatale oder good bad girl besetzt. Die Handlung spielt in verruchten Milieus von Gangstern und Unterwelt, zumeist bei Nacht und in der Großstadt. Die Beleuchtung ist das wesentlichste Unterscheidungskriterium, die Filme sind mittels sog. low-key-lighting ausgeleuchtet, also Beleuchtung von unten, was riesige Schattenmengen erzeugt (die eben nicht durch Fülllicht verhindert werden. Genau dieser Beleuchtungsstil ist dann auch die große gemeinsame Schnittmenge mit dem Neorealismo, zusammen mit der Hardboiled-Herkunft von Ossessione, denn natürlich sind es gerade die Verfilmungen von hardboiled-Detektivgeschichten von Raymond Chandler und Dashiell Hammett, die die "Welle" des Film Noirs auslösen. Er ist eng verwandt (wenn nicht sogar identisch) mit dem chiaroscuro, die beide allerdings auch schon Vorläufer im deutschen Stummfilm, dem poetischen französischen Realismus der 30er und den Universalhorrorfilmen hatten.



    (Die archetypische Femme Fatale, Gilda)


    Interessant dabei ist, dass es hier nicht wie bei anderen Genres eine gemeinsame Marketingidee gab: Films Noirs entstanden weitgehend unabhängig voneinander zur gleichen Zeit in den USA, sind nie als solche vermarktet worden. Es war einfach ein Stil der Zeit, der sich für diese Geschichten anbot, und das Publikum belohnte die Filme mit entsprechendem Erfolg. Das unterscheidet den Film Noir deutlich vom neorealismo, es ist keine Bewegung von Filmemachern gewesen, die eine andere Art von Kino inszenieren wollten; es waren Studioregisseure, die die vorhandenen Ressourcen nutzten, um eine eigene Handschrift unterzubringen, viele von ihnen Emigranten aus dem deutschen und europäischen Kino (auch bei den Universal-Horrorfilmen war Karl Freund maßgeblicher Kameramann, der auch schon an Metropolis mitwirkte; die personellen Kontinuitäten lassen sich da relativ leicht nachvollziehen).

    Und jetzt wird der Neorealismo in den späten 40ern und frühen 50ern auch in den USA rezipiert und verändert seinerseits den Film Noir: Immer mehr Szenen spielen ab den 50er Jahren an echten Schauplätzen, Nachtaufnahmen werden auch auf echten Straßen gedreht etc. Die beiden eh schon zumindest ästhetisch verwandten Stile gehen, wenn man so will, im späten Film Noir eine Symbiose ein.

    (Der dritte Mann, ein gutes Beispiel, dass der Stil des Film Noir ebenso internationale Verbreitung findet wie der Neorealismo)


    Warum entsteht der Film Noir aber zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, warum bleibt er etwas über 15 Jahre als Stil populär, um dann für über 10 Jahre genauso plötzlich wieder zu verschwinden? Auch hier lassen sich soziodemographische Rahmenbedingungen ablesen, die dies erklärbar erscheinen lassen. Mit Kriegseintritt wird der Film Noir relevant, mit Kriegsende immer erfolgreicher. Plötzlich kehren die Soldaten heim (die im Film Noir erstaunlich oft als psychopathische Mörder gezeigt werden), sind mit den Änderungen in der Gesellschaft konfrontiert und überfordert. Frauen haben in der Arbeitswelt der 40er Jahre massiv Fuß gefasst und Männer aus Jobs verdrängt, die 50er Jahre sind in diesem Sinne eine Phase der Restitution des vorherigen Zustands, Frauen werden als Heimchen an den Herd geschickt. Die Femme Fatale kann so leicht als Sinnbild für die nach der patriarchalen Macht greifende Frau gesehen werden, die zurückgedrängt oder - wie das good bad girl - wieder "umgedreht" und geehelicht werden muss. Die Filme arbeiten also auch hier soziale und politische Diskurse auf, die die Zeit prägen, das hat er mit dem Neorealismo in jedem Fall gemeinsam. Und dass er ausgerechnet in der Ära des Vietnamkriegs und der Watergate-Affäre wieder populär (und als Genre identifiziert) wird, ist ebenso sicher kein Zufall.


    So, ich hoffe Elektro ist halbwegs zufrieden mit der Darstellung, oder fehlt Dir was?

  • Wenn ich jetzt noch Zugriff auf meine damalige Abschlussprüfung zum Thema Film Noir hätte... aber das ist leider lange her (2006'ish), daher ist mein Gedächtnis etwas getrübt ;)


    Für eine erste Zusammenfassung ist das aus meiner Sicht sehr gut gelungen - aber da es für beide Sujets ja tonnenweise an Literatur gibt kann man sich darin natürlich noch beliebig weit verlieren. Ich sollte wohl mal ein paar meiner Noir-Bücher abstauben, denn Du hast es jedenfalls geschafft meine, seit den beiden Kindern so ziemlich beerdigte Lust an einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit der Materie, wieder etwas anzufachen. Dafür bin ich Dir wirklich dankbar :)


    Aus Mangel an Zeit kann ich hier aktuell selbst leider nicht allzu viel zum Besten geben, aber vielen lieben Dank für deine schönen Ausführungen. In Noir bin ich wesentlich versierter als im Neorealismus, da sind meine (filmischen) Lücken deutlich grösser, obwohl ich auch hier meisten "Schlüssel-Werke" der Periode gesehen haben dürfte.


    Was ich aber "spontan" immerhin noch beisteuern kann ist meine Top10 Noir Filme aus der Film Noir Ära (Stand 2016):

    Elektros Top 10 film noir movies - IMDb


    (für Dich dürften da wenig Inspiration dabei sein, aber vllt. ja für manch Mitleser hier - zudem habe ich eigentlich so viele Noirs gesehen, es müsste irgendwas zw. 50-100 sein, dass ich die Liste auch gut mal auf eine Top20 aufbohren könnte).



    PS: mir fällt gerade noch was ein - besonders spannend ich beim Film Noir immer den Diskurs um "Style over Substance" (also dass das Visuelle meist die entscheidende Prägung war, und den Wiedererkennungswert der Filme, die man dieser Richtung zuschreibt, im wesentlichen ausgemacht hat, weniger das Drehbuch selbst bzw. eine kohärente Story/Dramaturgie - das kann man dann ja wiederum auch an den "Neo Noirs" wie bspw. Blade Runner erkennen, dessen Noir-Prägung hauptsächlich durch die visuellen Schlüsselreize als solche identifiziert werden (nicht etwa durch eine klassische Hardboiled Crime Story mit traumatisierten/fatalistischen Kriegsheimkehrern) - nicht zuletzt meist durch das Spiel mit Licht & Schatten als wesentliches visuelles Element welches die Stimmung/Erzählung eine Film Noir trägt und prägt - ganz besonders ausgeprägt im zweitplatzierten Film meiner Liste - Raw Deal).


    Puh, jetzt habe ich mich doch noch kurz darin verloren, und könnte sicherlich noch weitermachen :D

    7 Mal editiert, zuletzt von Elektro ()

  • Elektro Lustig, ich hab tatsächlich meine Magisterprüfung zum Film Noir abgelegt ;). Jedenfalls ist die Liste sehr gut, Murder my sweet ist so unglaublich gut, ich kann gar nicht glauben, dass der sonst fast nie genannt wird. Aber was mir da auf den ersten (und auch auf den zweiten) Blick fehlt, ist Detour von Ulmer. Sollte der Dir damals entgangen sein (was aufgrund der damals verfügbaren, miserablen Kopien kein Wunder wäre), dann empfehle ich den nachzuholen. Im B-Bereich und für 50.000 Dollar gibt es für mich keinen besseren Noir (der Film lebt vom Clou eines unzuverlässigen Erzählers, das kostet ja nicht unbedingt extra).


    Und klar war das oben grob vereinfacht, ich will hier ja keinen Fachvortrag halten. Die These zur Femme Fatale wird von einer Vielzahl von Filmen durchkreuzt, wenn man sie denn erstmal genauer ansieht (Gilda etwa ist eindeutig eher das Opfer der beiden Männer, die nach ihr gieren). Ich hab vorrangig versucht, einen Überblick zu geben. Was mich am Zusammenhang wirklich am meisten fasziniert, ist dieser kompette Umschwung des Film Noir ab 51/52 hin zum Dokumentarischen, mit wenig Nacht und viel Außenaufnahmen. Und der lässt sich tatsächlich am besten mit dem riesigen US-Erfolg von Miracolo a Milano erklären, der den Neorealismo auch in die USA gebracht hat (Fahrraddiebe ebenso).


    Auf das kommende Remake von Nightmare Alley freuen wir uns wohl jedenfalls beide?

  • Ich habe, aufgrund deiner "heissen Empfehlung" im Kino-Thread vor einigen Wochen/Monaten(?) letzte Woche dann auch endlich mal Fatale angeschaut - auch hier besten Dank für den Tipp, ich war hoch entzückt endlich mal wieder einen guten Film dieser Gattung sehen zu dürfen :danke:

  • Detour von Ulmer habe ich "natürlich" gesehen - musste aber wohl einen schlechten Tag gehabt haben, der rangiert bei mir laut IMDB eher im Mittelfeld der gesehen Noirs :( (aber Grund genug das nochmals auf den Prüfstand zu stellen!)


    zu Nightmare Alley :love::love::love:

    Vor der Restaurierung 2018 waren die Rahmenbedingungen zur Sichtung auf DVD allerdings auch so hundsmiserabel (gerissene Filmkopie 8. oder 9. Generation, fast kein Chiaroscuro mehr übrig, Ton verrauscht etc.), dass man die Qualitäten des Films leicht übersehen konnte. Aber wenn Du ein Verfechter der Style-over-substance-These bist, dann hat er wahrscheinlich in einer Top10 nichts zu suchen, zumindest auf die Idee, dass der Protagonist uns 60 Minuten nur anlügt, muss man aber auch erstmal kommen. Ich hatte das Glück, den um 2000 herum in der Cinematheque Francaise in der dortigen Archivkopie sehen zu dürfen, die war schon deutlich besser als die verfügbaren DVDs damals. Mittlerweile gibt es sogar eine BluRay von Criterion, mit der der Film wirklich fantastisch aussieht.

  • Auf die Gefahr hin dass wir bald angezählt werden weil Dialog und so ;) - ich kann mich an die schlechte Qualität erinnern - ich habe ihn 2006 gesehen, das war also noch keine Criterion BluRay sondern eine recht miese digitale Kopie einer recht miesen analogen Vorlage 8o (und ja, das trübt das Erlebnis dann schon auch).


    Mist, "Just When I Thought I Was Out, He Pull Me Back In!"... so fühle ich mich gerade jedenfalls. Einer geht also noch...

    Ich hatte im Studium noch ein ganz interessantes Buch in den Händen welches eine "Methode Noire" ausformuliert - kennst Du das?



    Vom film noir zur méthode noire. Die Evolution filmischer Schwarzmalerei (Aufblende - Schriften zum Film) : Röwekamp, Burkhard: Amazon.de: Bücher

    Einmal editiert, zuletzt von Elektro ()

  • Auf die Gefahr hin dass wir bald angezählt werden weil Dialog und so

    Unsinn, ich finde das absolut faszinierend neue Dinge zu hören/lernen.

    sondern eine recht miese digitale Kopie einer recht miesen analogen Vorlage

    das erinnert mich an mein erstes Anschauen von Star Wars - Dark Menace drei Wochen vor dem US-Start. Vom Rechner auf den (geliehenen) Beamer auf die weisse Wand mit 800*600 (da war eine Probevordührung mit Handkamera abgefilmt worden, entsprechend wacklig war es auch...) X/

    Ich gebe hier, auch wenn ich es im Text nicht explizit erwähne, immer meine persönliche Meinung wieder.

  • Ja, daran kann ich mich auch erinnern, bei uns war das damals ein grosses "Happening" im Studentenwohnheim ;) (wobei es "nur" ein Monitor war - kein Beamer - das war aber in der gebotenen Auflösung trotzdem schrecklich genug). Es war aber mitunter auch gefühlter Auftakt für die (Weiter-)Entwicklung der Video-Codecs (divx, xvid, etc.) wie sie heute immer noch zur Komprimierung eingesetzt werden - nur eben heuer in ansehlichen HD-Auflösungen.


    Diese legendäre Star Wars Sichtung war jedenfalls Quell so mancher Pixel-Matsch und Jar Jar Binks Alpträume seither 8o

    4 Mal editiert, zuletzt von Elektro ()

  • Ich hab sogar eine Fachrezension zum Röwekamp geschrieben, was ich bis gerade vergessen hatte ;). Der war gut, aber sehr literaturwissenschaftlich in seiner Herangehensweise, also weniger auf den visuellen Stil konzentriert als auf dramaturgische Komponenten. Das eine Buch zum Film Noir gibt es aber auch schlicht nicht (zumindest nicht bis 2015). Muellers DARK City kommt da noch am ehesten ran, ist aber fast mehr Coffee Table Book.

  • Archibald Tuttle  Elektro


    Darf ich fragen, ob ihr beruflich in dem Gebiet Film tätig seid?

    Nicht mehr.

    Weil man davon nicht Leben kann oder weil Du es dann doch nur als Hobby weiterbetreiben möchtest?

    "We are the unknowns. Lower your shields and surrender your ships. We will add your biological and technological distinctiveness to our own. Your culture will adapt to service us. Resistance is futile."


    Meine Spiele: Klick mich

  • Ersteres, irgendwann ist der Punkt erreicht wo man ohne Professur die Hochschule hinter sich lassen muss, und der freie Markt ist als Filmwissenschaftler quasi unmöglich.

    Das war aber eine (kluge) Entscheidung, die nicht alle in dem Feld treffen, oder?

    Röwekamp zum Beispiel scheint jetzt Privatdozent zu sein, das ist finanziell auch nicht wirklich lohnenswert, oder?

  • Ich habe Anfang/Mitte der 00er Jahre mal eine Vorlesung zu Mulholland Drive besucht. Ich bin dafür extra nach Tübingen gefahren.

    Ich müsste irgendwo noch das Manuskript dazu haben, falls wer Interesse hat.

    Den Film habe ich irgendwie nie so richtig verstanden, aber ist dennoch faszinierend.


    Meine Frau hat in ihrem Nebenfach ebenfalls Medienwissenschaften in Basel studiert. Aus ihrem damaligen Bekanntenkreis, die ebenfalls Medienwissenschaften studiert haben, ist keiner in der Branche tätig. Das finde ich schon seltsam, da die Filmbranche eigentlich groß ist und auch wirtschaftlich viel umsetzt.

    Vielleicht besteht da ein Zusammenhang, dass aus Deutschland wenig gute kommerziell erfolgreiche Filme kommen?



    Bananenfischer

    Als Privatdozent kannst du nicht überleben. Die Bezeichnung sagt erstmal nur aus, dass du einem Prof gleichgestellt bist, aber kein Dienstverhältnis mit der Uni hast.

    Du kannst in der Regeln nicht, wie ein Prof, auf die Ressourcen einer Hochschule greifen. D.h. du bekommst kein Gehalt, kein Team zur Verfügung etc..

    Daher musst du weitere Geldquellen finden, wie z.b. Drittmittel, Anstellungen (z.b. Vertretung, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, in der Regel befristet) oder gleich einen festen Beruf außerhalb der Uni.

    Die PD-Sache ist im Uninetrieb leider zu einer echten Ausbeutung verkommen. Ernsthaft können sich in der breiten Masse nur Ärzte oder Juristen das PDtum leisten.

  • Vielleicht sollte man noch unterscheiden zwischen "Beruflich was mit Film machen" und "Beruflich Filme machen". 😊


    Filmrezensenten und Medienwissenschaftler bringen ganz andere Kompetenzen mit als Beleuchter, Kamera-Assis, Dolly-Grips oder Cutter.

    Nicht unbedingt bessere oder schlechtere, nur andere. 😊


    Ich durfte, noch ganz frisch am Set, mal einen Tonmeister kennenlernen, der noch mit Heinz Rühmann und Romy Schneider Filme in den 50ern gedreht hat, und ein Wissen über den deutschen Nachlriegsfilm mitbrachte, das man so kaum findet, einfach, weil er ihn mit gestaltet hat.

    Leider ein dicker weißer Fleck in der Oral History, dass sowas niemand wirklich je gesammelt hat. 😓

    So bleiben nur die Biografien der großen Stars und ein paar Einzelwerke besonders pfiffiger Filmhistoriker übrig.

  • Ich habe Anfang/Mitte der 00er Jahre mal eine Vorlesung zu Mulholland Drive besucht. Ich bin dafür extra nach Tübingen gefahren.

    Dann wären wir uns ja fast begegnet ;) Ich habe in Tübingen studiert, und die Reihe "Film & Psychoanalyse" im Kino Museum fand ich auch immer sehr spannend.

    Mulholland Dr. habe ich damals zwar in Tübingen gesehen - aber nicht in dieser Reihe, an diesem Abend war ich leider anderweitig verplant. Der Film hatte mich damals jedenfalls so nachhaltig beeindruckt dass ich 10 Jahre später auf der Hochzeitsreise Nachts über die Hügel von Hollywood gedonnert bin um die Strasse zu finden und den Ausblick von dort oben auf Downtown zu geniessen.


    Die Parkplätze, die das ermöglicht haben, waren mir aber aufgrund vielerlei zwielichtiger Gestalten etwas suspekt, und ich habe mich nicht getraut mehr als für 1-2 Minuten das Auto zu verlassen :lachwein: (da mich der Film nachhaltig verstört hat schwang dieses Unbehagen wohl auch auf diesem nächtlichen Ausflug mit).