aus dem Yomi-Thread:
[...] Viele Regelhefte funktionieren nach dem Prinzip: Komplett lesen, verstehen, dann spielen. [...]
Seufz. Wenn's bloß so wäre...
Jetzt vor Essen habe ich mich wieder durch sehr viele Anleitungen gequält und was mir im Jahre 2017 aufgefallen ist, ist der Trend zu immer längeren Regeln mit mehr Mechanismen. Motto: "viel hilft viel". So hofft man anscheinend, sich noch von der Masse abheben zu können. In dem mich besonders interessierenden Eurospiel-Bereich sind 16 Seiten Regeln völlig normal geworden und 20 oder mehr auch keine Seltenheit mehr. Spitzenreiter war dieses Jahr Agra mit 28 (!) Seiten Regeln. Das ist jetzt kein Ameritrash-Spiel, wo umfangreiche Regeln für allerlei Sonderfälle da sind und dann entsprechend nachgeschlagen werden können. Von den 28 Seiten Agra-Anleitung ziehen wir meinetwegen ein paar Seiten Anhang mit Plättchenerklärung hinten und Titelseite/Inhaltsverzeichnis/Materialliste vorne ab, aber den Rest braucht man zwingend für jeden einzelnen Spielzug mit seinen diversen Haupt- und Nebenaktionen und allem drum und dran, was dabei zu beachten ist.
Die Regelhefte, denen ich begegnet bin, funktionierten allzu oft nach dem System: Komplett lesen, Grundstruktur verstehen (mit einem riesigen Haufen offener Baustellen und Fragezeichen im Kopf), ein zweites Mal komplett lesen, dabei wirklich verstehen, dann erst (theoretisch) spielen können. Und den Kram gut erklären zu können, ist dann nochmal eine ganze Nummer schwieriger als das Spielen. Um mal ein schon veröffentlichtes Spiel als Beispiel zu nehmen: Bei Sachen wie Lisboa ist das schon der Horror. Nach dem dritten von fünf verschachtelten Untersystem oder komplexen mehrschrittigen Zugoptionen, die man getrennt für sich erklären muss, bevor man die größeren Zusammenhänge irgendwie sinnvoll erklären kann, schaltet die Hälfte der Zuhörer ungewollt innerlich ab, weil der Kopf soviel Information gar nicht verarbeiten kann. Völlig normal. Wenn man selbst Stunden braucht, um sich eine Regel nach mindestens zweimaligem Lesen komplett drauf zu schaffen (plus Ausprobieren am aufgebauten Spiel plus ggf. BGG-Recherche für Sonderfälle hinterher), wie soll das jemand nach 30 Minuten komprimierter Erklärung schaffen können? Da bringt dann auch die Möglichkeit, den Erklärer etwas fragen zu können, nicht mehr viel. Wer das mal ausprobieren möchte und Lisboa noch gar nicht kennt, kann sich ja mal das knapp 30-minütige Erklärungsvideo von Paul Grogan anschauen. Der Mann kann eigentlich ganz gut erklären. Aber erstens braucht er für Lisboa auch schon ungewöhnlich lange (relativ zu seinen üblichen Erklärvideos) und zweitens behaupte ich mal, dass nur mit diesem Video als Erklärung niemand in der Lage wäre, Lisboa zu spielen.
Bei vielen Trends ist es so, dass etwas immer mehr und immer stärker wird, bis irgendwann die Gegenbewegung einsetzt. Mal ein bisschen provokativ gesagt: Klar, mit sowas wie "average weight bei BGG über 3,5? Toll, muss ich mir gleich anschauen!" kann man sich ja auch wunderbar elitär fühlen. Heavy Cardboard Guild und sowas. Ganz unempfänglich bin ich für sowas ja auch nicht; Madeira, Vinhos Deluxe oder Dungeon Petz gehören zu meinen Lieblingsspielen. Wann kommt die Gegenbewegung, die dem ein "Regel- und Mechanismenmonster brauche ich nicht mehr, wenn ich's keinem mehr unter einer Stunde erklären kann." entgegen setzt?